Wachstum und Inflation: Das Dilemma der Zentralbanken

09. Mai 2022
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Europas Wirtschaft bewegt sich in unterschiedliche Richtungen: Die Inflation steigt und das Wachstum verlangsamt sich. Was soll eine Zentralbank angesichts dieses Dilemmas tun? Leider gibt es keine guten Antworten. Eine Anhebung der Zinsen, um die hohe Inflation zu bekämpfen, wird die Wachstumsverlangsamung noch verstärken; eine Lockerung der geldpolitischen Bedingungen, um das Wachstum zu stützen, bedeutet auch, die Inflation zu lange zu hoch laufen zu lassen.

Wachstums-Inflations-Dilemma ist in Großbritannien am stärksten ausgeprägt

Dieses Dilemma ist in Großbritannien ausgeprägter als in der Europäischen Union oder den USA, weil die Inflation noch höher ist – und wahrscheinlich auch bleiben wird. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass die regulierten Energiepreise in Großbritannien sowohl im April als auch im Oktober neu festgesetzt werden. Die Erhöhung im April betrug mehr als 50 %, und im Oktober ist mit einer weiteren großen Anpassung zu rechnen.

Gleichzeitig wird die Wachstumsverlangsamung in Großbritannien deutlicher, was sich auch in den Prognosen der Bank of England widerspiegelt. Die Zentralbank erwartet nun, dass die britische Wirtschaft 2023 schrumpfen und 2024 nur noch leicht wachsen wird. Auch der Brexit wird den britischen Handel weiter belasten und das Wachstum nach unten ziehen.

Geldpolitische Gremien werden sich zunehmend spalten

Doch die Briten sind nicht als Einzige mit dieser Herausforderung konfrontiert – auch wenn sie am stärksten ausgeprägt ist. Unsere Prognosen für die USA und die Eurozone zeigen eine Verlangsamung des Wachstums im Jahr 2022, auch wenn die Inflation weiterhin deutlich über dem Zielwert liegt. Im Moment erwartet der „Offenmarktausschuss“ der US-Notenbank (FOMC) einstimmig eine Straffung der Geldpolitik, aber wir gehen davon aus, dass dieser Konsens im Laufe des Jahres ausfransen wird, wenn sich die Anzeichen für eine Verlangsamung des Wachstums häufen. Die eher aggressiven Mitglieder werden die Zinsen so lange anheben wollen, bis die Inflation deutlich gesunken ist, während die eher zurückhaltenden Mitglieder schneller auf ein langsameres Wachstum reagieren werden. Das Gleiche gilt für die Europäische Zentralbank (EZB): Einige Mitglieder scheinen darauf erpicht zu sein, die Zinsen schon im Juli anzuheben, während andere sehr viel vorsichtiger sind. Diese Kluft wird sich im weiteren Verlauf des Jahres noch vergrößern.

Kompromisse wahrscheinlich

Wir gehen davon aus, dass alle drei Zentralbanken versuchen werden, einen Mittelweg zu finden. Die Bank of England wird die Zinsen wahrscheinlich weiter anheben – es ist einfach zu viel von einer Zentralbank verlangt, die Zinsen so niedrig zu halten, wenn die Inflation nahe bei 10 % liegt. Wir sehen den Höchststand der britischen Zinsen bei 2,0 % (Abbildung).

Die Leitzinsen der Zentralbanken steigen
Leitzinsprognosen (in Prozent)
Policy rate forecasts for the US, UK and euro area for 2022 and 2023

Aktuelle Prognosen sind keine Garantie für zukünftige Ergebnisse.
Stand: 10. Mai 2022
Quelle: AllianceBernstein (AB)

Die Europäische Zentralbank wird die Zinsen wahrscheinlich zumindest in den positiven Bereich anheben, aber die niedrigere Inflation macht höhere Zinsen weniger notwendig; 0,50 % ist eine wahrscheinliche Obergrenze für dieses Jahr. Die Wachstumsdynamik in den USA ist viel stärker als in Europa, sodass wir erwarten, dass die Fed aggressiver vorgehen wird. Wir gehen jedoch davon aus, dass sich das Tempo der Zinserhöhungen im Laufe des Jahres 2022 verlangsamen wird, sodass der Leitzins zum Jahresende bei etwa 2,5 % liegen wird.

In einem Umfeld, in dem es keine guten Antworten auf die Herausforderung von Wachstum und Inflation gibt, müssen die Zentralbanken flexibel sein – und die Anleger auch.

Die in diesem Dokument zum Ausdruck gebrachte Meinungen stellen keine Recherchen, Anlageberatungen oder Handelsempfehlungen dar und spiegeln nicht notwendigerweise die Ansichten aller Portfoliomanagementteams bei AB wider. Die Einschätzungen können sich im Laufe der Zeit ändern.