Eigentlich galt seit der Finanzkrise unter Anlegern das ungeschriebene Gesetz, dass schlechte Wirtschaftsnachrichten gute Marktnachrichten sind. Denn dann war stets mit der Hilfe der Zentralbanken zu rechnen. Und zeigte sich eine Zentralbank nach einer Sitzung akkommodierender, also dovisher als gedacht, wurde das von den Märkten ebenfalls umgehend gefeiert.
Für knapp eineinhalb Stunden dachten am Donnerstag die europäischen Aktienanleger, sie könnten weiterhin nach diesem gut einstudierten Drehbuch handeln. Der Dax und Stoxx 600 machten mit der Publikation der Europäischen Zentralbank (EZB)-Pressemitteilung einen Satz nach oben, der jedoch noch während der Pressekonferenz wieder einkassiert wurde, bevor die Märkte dann ins Minus drehten. Das ist insbesondere für den Dax umso bemerkenswerter, als dass der Euro gegenüber dem Dollar um über ein Prozent nachgab und sogar kurz mal unter der 1,12 handelte. Normalerweise hilft ein schwächerer Euro dem exportlastigen Dax auf die Sprünge.
Auch die Rentenmärkte reagierten deutlich. Am Ende des Tages hatte sich die ohnehin schon dürftige Rendite 10jähriger Bundesanleihen halbiert, auf 0,06 Prozent. Die 9jährigen Anleihen rentieren bereits wieder negativ und auch ein erneutes, temporäres Rutschen der 10-Jährigen ins negative Territorium schließen wir nicht mehr aus. "Diese Sitzung hat uns überrascht. Die EZB zeigt sich deutlich besorgter über Europas Wirtschaft, als von allen erwartet. Wie ernst die Anleger die Sorgen der EZB nehmen, zeigt sich an den Marktreaktionen, die trotz des akkommodierenden Tons negativ waren", sagt Ulrike Kastens, Volkswirtin der DWS.
Die EZB-Entscheidungen im einzelnen
Die EZB hat nach ihrer Sitzung die Märkte nicht nur mit der frühen Festlegung ihrer Geldpolitik überrascht, sondern auch mit ihrem pessimistischen Wirtschaftsausblick. Das gesamte Paket, das am Donnerstag angekündigt wurde, enthält drei wichtige Botschaften.
- Die Wachstumserwartungen für das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wurden insbesondere für 2019 deutlich nach unten korrigiert. Die EZB erwartet nun für 2019 ein Wirtschaftswachstum in Höhe von 1,1 Prozent (nach 1,6 Prozent), von 1,6 Prozent für 2020 und von 1,5 Prozent für 2021, wobei die Risiken weiterhin ins Negative gerichtet sind, insbesondere aufgrund der anhaltenden Unsicherheit (Protektionismus usw.). Dies ist deswegen bemerkenswert, als dass die EZB in der Vergangenheit stets von ausgewogenen Chancen und Risiken sprach, wenn sie eine derlei drastische Reduzierung der Prognosen und derart drastische monetäre Maßnahmen bekanntgab. Das ist diesmal aufgrund der hohen Unsicherheit nicht der Fall. Darüber hinaus wurde der gesamte prognostizierte Inflationspfad nach unten korrigiert. Für 2019 auf 1,2 Prozent, für 2020 auf 1,5 Prozent und auch für 2021 erwartet sie nur noch eine Inflationsrate von 1,6 Prozent, womit implizit das Inflationsziel von "unter, aber nahe 2,0 Prozent" aufgegeben wird. Die EZB ist weiterhin zuversichtlich, dass höhere Löhne in höheren Preisen münden werden, dies aber länger als erwartet dauern wird.
- Vor diesem Hintergrund hat die EZB ihre Zinsprognose bereits am Donnerstag überraschend geändert - Zinserhöhungen werden für 2019 ausgeschlossen.
- Darüber hinaus sollte die neue Runde der targeted longer-term refinancing operations (TLTROs) für eine weiterhin günstige Liquidität sorgen. Die erste Tranche der neuen TLTROs III wird im September 2019, die letzte im März 2021 gestartet. Alle haben eine Laufzeit von zwei Jahren und sind an den Hauptrefinanzierungssatz gekoppelt, was bedeutet, dass der letzte im Jahr 2023 fällig wird. Details sollten überraschenderweise erst später bekannt gegeben.
Fazit und Implikation für unseren Ausblick
Die Vorsichtigkeit der EZB hat die Märkte überrascht. Sie hat ihre Prognosen reduziert, erste Details zu TLTROs angekündigt und ihre Geldpolitik akkommodierender als erwartet ausgerichtet. Die drastische Reduzierung der BIP-Wachstumsprognosen und die weitere Einschätzung der wirtschaftlichen Chancen und Risiken als negativ bedeutet jedoch, dass die EZB weiterhin über die wirtschaftliche Entwicklung im Euroraum besorgt ist. Ihre Wachstumsschätzungen liegen nun leicht unter den unsrigen (2019: 1,3 Prozent, 2020: 1,4 Prozent). Dennoch schätzen sie, ganz wie wir, die Wahrscheinlichkeit einer Rezession als sehr gering ein, ebenso wie erneute Deflationssorgen.
Mit dieser Entscheidung fühlen wir uns mit unseren, kürzlich erst reduzierten, Prognosen für die Bundrenditen bestätigt. Für 10-Jährige hatten wir sie Ende Februar von 0,60 Prozent auf 0,30 Prozent auf 12-Monatssicht reduziert. Unsere Euro-Dollar-Prognose hatten wir per März 2020 zwar mit 1,15 Euro je Dollar bestätigt, eine kurzfristige Euroschwäche jedoch für wahrscheinlich gehalten.
Für europäische Banken verlängert sich mit der gestrigen Entscheidung die Leidenszeit. Durch die Ankündigung der EZB, die Zinsen nicht vor 2020 zu erhöhen, werden sich spürbare Verbesserungen im Zinsergebnis der Banken entsprechend nicht vor 2021 in den Bankbilanzen zeigen.