1.) Die Staatsschulden müssen drastisch sinken. 60 bis 70 Prozent des BIP wäre die Obergrenze (aktuell über 120 Prozent), um Zinsen zahlen und die notwendigen Zukunftsinvestitionen leisten zu können. Griechenland braucht deshalb eine Restrukturierung seiner Schulden. Dies kann entweder über einen „Haircut“ von ca. 50 Prozent oder eine Streckung der Laufzeiten bestehender Anleihen mit einer drastischen Reduzierung der Kupons auf 2 bis 3 Prozent erzielt werden. Um eine geordnete Abwicklung in den nächsten 12 Monaten zu ermöglichen, müssen die EU und der IWF einen Überbrückungskredit bereitstellen. Um den sicheren Teilverlust dieses Kredits zu vermeiden, ist er von Griechenland vorrangig zu bedienen.
Für die griechischen Banken würde dies einen erheblichen Wertberichtigungsbedarf auslösen. Die Eigenkapitalquote der Banken ist mit „echten“ 8 Prozent zwar sehr viel höher als im Rest Europas, doch halten die Banken nach unseren Schätzungen aktuell ca. 40 Mrd. € in Griechenanleihen (Ende 2009 offiziell 35 Mrd. €), was einen Abschreibungsbedarf von rund 20 Mrd. € auslösen würde. Das Eigenkapital aller vier börsennotierten Institute beträgt rund 25 Mrd. €, nach den Abschreibung blieben also nur noch 5 Mrd. € übrig. Um nach den Abschreibungen auf eine Eigenkapitalquote von 5 Prozent zu kommen, müsste der Staat den Banken rund 10 Mrd. € zuführen (ergäbe dann 15 Mrd. € bei einem Bilanzvolumen nach Abschreibungen von 300 Mrd. €). Damit wäre er bei allen Instituten Mehrheitsaktionär. Dies hätte den positiven Nebeneffekt, dass die Bankinhaber (also auch die griechischen Großfamilien) durch eine massive Verwässerung ihres Anteils an den Kosten der Rettung beteiligt würden.
Die griechische Presse hat sich in den letzten Wochen nicht mehr zu dem Problem des hohen Staatsanleihenanteils in den Bankbilanzen geäußert, um einen Run auf die Banken zu vermeiden. Im ersten Quartal kam es zu Abflüssen, die sich nach unseren Schätzungen auf rund 10 Mrd. € belaufen (rund 5 Prozent der Kundeneinalgen). Noch herrscht kein besonderer Andrang in den Schalterhallen. Die von mir befragten Personen und Unternehmen sehen das Thema nicht als unmittelbar virulent an, was sich aber täglich ändern kann.
2.) Damit der Schuldenberg nicht wächst, darf das jährliche Haushaltsdefizit nicht höher sein als das nominale BIP Wachstum. Für 2010 wird ein Haushaltsdefizit von 21,5 Mrd. € erwartet, was uns noch als optimistisch erscheint. Das sind rund 9 Prozent des BIP und führt zu einem Schuldenberg von 125 Prozent des BIP Ende 2010. 2011 dürfte allein die Zinslast ohne die unter Punkt 1.) genannte Schuldenreduzierung rund 15,5 Mrd. € betragen (5 Prozent auf 310 Mrd. € Schulden). Unterstellt man ein nominales Wirtschaftswachstum für die nächsten Jahre von 3 Prozent, würde dies einen Anstieg der Wirtschaftsleistung um 7,2 Mrd. € p. a. bedeuten. Maximal so hoch dürfte die Neuverschuldung (Haushaltsdefizit) dann sein. Wenn aber schon 15,5 Mrd. € für Zinsen draufgehen, muss Griechenland einen Primärüberschuss (Haushalt vor Zinskosten) von 8,3 Mrd. € erzielen (2009 hatte Griechenland ein Primärdefizit von 18,5 Mrd. € , 2010 trotz aller Sparanstrengungen immer noch von 8,5 Mrd. €). Das Land müsste also etwas nahezu Unmögliches schaffen und seinen Haushalt in den nächsten Jahren noch mal um fast 17 Mrd. € verbessern, um auf einen Primärüberschuss von 8 Mrd. € zu kommen. Das dazu erforderliche Einsparvolumen hätte zweifelsohne einen drastischen Rückgang der Wirtschaftsleistung zur Folge. Einer meiner Gesprächspartner fasste dies in die treffende Beschreibung: „Das hieße, die Wirtschaft zu Tode zu sparen, um den Staat temporär zu retten“.
Unser Vorschlag, die Schulden und damit die Zinsbelastung zu halbieren, würde das Einspar- und Optimierungsvolumen auf „nur“ noch knapp 9 Mrd. € reduzieren. Auch dies wäre aber noch ein hartes Stück Arbeit, was verdeutlicht, dass eine Restrukturierung der Schulden alleine nicht ausreicht, um das Land über den Berg zu bringen.
3.) Ohne eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit wird es kaum möglich sein, das riesige Leistungsbilanzdefizit zu finanzieren (es sei denn, die Griechen kaufen keine Autos, Unterhaltungselektronik, IT, Maschinen, Anlagen etc. mehr). Hierzu müssen die Lohnstückkosten fallen und die Infrastruktur verbessert werden (was leider auch wieder Geld kostet). Um die Wettbewerbsfähigkeit schnell zu verbessern, würde sich die Wiedereinführung der Drachme anbieten, die allerdings politisch auf extremen Widerstand trifft.
4.) Letztlich muss die Wirtschaft auf einen nachhaltigen Wachstumspfad geführt werden, der nicht von EU-Subventionen und staatlichen Zuwendungen getragen wird. Neben einer verbesserten Wettbewerbsfähigkeit zählen auch weniger Bürokratie, ein effizienteres Rechtssystem und ein investitionsfreundlicheres Klima zu den Hausaufgaben Griechenlands. Auch die in der griechischen Bevölkerung tief verwurzelte Streikkultur muss ein Ende finden. Griechenland steht hier in allen Belangen weit hinter anderen vermeintlichen Problemländern, wie etwa Irland, zurück.
Die Hoffnung, allein durch die Adressierung der Punkte 2.) bis 4.) Griechenland aus seiner Misere zu befreien, ist reines Wunschdenken von Politikern – getreu der Devise, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Auch in Griechenland habe ich niemanden getroffen, der die Lösung des Problems ohne eine Schuldenrestrukturierung glaubhaft skizzieren konnte. Andererseits reicht eine Neuordnung der Schulden alleine auch nicht aus.
Das Unternehmen Griechenland muss mit einem geordneten Vergleich seine erdrückende Schuldenlast reduzieren, einen harten Sanierungskurs fahren und ein Geschäftsmodell vorlegen, das die langfristige Überlebensfähigkeit glaubwürdig darlegt.
Die hohe Staatsverschuldung von gut 300 Mrd. € (125 Prozent des BIP) ist vor allem ein Ergebnis unvorstellbarer Sonderleistungen, mit denen eine Regierung nach der anderen Wählerstimmen geworben und ihre Günstlinge bedient hat. Das in den letzten Jahren vermeintlich hohe Wirtschaftswachstum Griechenlands basiert in hohem Maße auf kreditfinanzierter „Selbstbeschäftigung“ und nicht auf der Absatzstärke griechischer Unternehmen. Die Verwaltung und die Steuerbehörden sind ineffizient, teilweise korrupt. Der aufgeblähte öffentliche Sektor ist zu einer Beschäftigungsanstalt verkommen, die unzählige skurrile Missstände kreiert hat, von denen ich einige beispielhaft nennen möchte:
• 35-jährige Rentnerinnen (Alleinerziehende Mütter mit 15 Beitragsjahren).
• Ledige Offizierstöchter, die die Rente ihrer Väter gesetzlich geregelt weiter beziehen.
• Geschätzte 30.000 bis 60.000 „tote“ Rentner. Hier beziehen die Kinder die Rente ihrer verstorbenen Eltern weiter, da die ineffiziente Verwaltung keine Abstimmung zwischen Rentenbehörde und Einwohnermeldeamt vornimmt.
• Gehälter von Lokomotivführern und Technikern im öffentlichen Dienst (vor allem Rundfunkanstalten), die bei einem Basisgehalt von 30.000 € durch Zulagen und „fiktive Überstunden“ bis zu 100.000 € erreichen können.
• Den inoffiziellen Berufsstand der „Exklusiven Krankenschwester“, die Patienten im Krankenhaus für 90 € pro acht Stundenschicht betreut (macht 270 € am Tag).
• Die Eisenbahngesellschaft OSE dürfte die Spitze der griechischen Verschwendungscharts markieren (Angaben gemäß “Economic Bulletin” der Alpha Bank November 2008):
Im Jahre 2007 erzielte die griechische Eisenbahn bei einem Umsatz von nur 105 Mio. € einen Verlust von 693 Mio. € . Allein die Lohnkosten betrugen das Vierfache des Umsatzes. Im Jahr 2008 erhöhte sich der Verlust auf 762,6 Mio. €. Zahlen für 2009 liegen uns noch nicht vor. Die Bahnstrecke „Peloponnese Line“ erzielte 2007 einen Umsatz von nur 2 Mio. €. Die Kosten dieser „Geisterbahn“ lagen mit 60,6 Mio. € 30-mal höher.
Die Eisenbahngesellschaft ist nur ein Beispiel dafür, wie sehr das Land über seine Verhältnisse lebt. Überall wurde Speck angesetzt, der aber nicht allen Bevölkerungsgruppen gleichmäßig zu Gute kommt. Neuer Speck kann relativ leicht weggeschnitten werden, alte Pfründe sind dagegen nur noch gegen erbitterten Widerstand der Betroffenen zu kappen. Es gibt Gewinner und Verlierer des Systems. Zu Letzteren gehören die „normalen Angestellten“. Ihre Löhne sind gering und durch Quellenbesteuerung nicht vor der Steuer zu verstecken. So verdient die Buchhalterin eines Fondsmanagers, mit dem ich mich in Athen getroffen habe, 1.500 € p.M. Ihre Kollegin im Genfer Büro des Unternehmens kommt bei gleicher Qualifikation auf das Vierfache.
Der Fondsmanager verdeutlichte mir die dem System immanente Ungleichbehandlung an folgendem Beispiel: Seine 63-jährige Mutter verdient als Chirurgin an einem staatlichen Spital mit sechs Stunden OP-Arbeit und durchschnittlich vier OPs täglich nur 2.000 € im Monat. Sein Vater, der eine eigene kleine Praxis hat, kommt auf ein Bruttoeinkommen von 60.000 € im Jahr, versteuert davon aber nur 12.000 €, so dass ihm 58.000 € nach Steuern bleiben. Neulich musste sich mein Gesprächspartner einer Kniearthroskopie unterziehen. Kostenpunkt 3.400 €, zahlbar natürlich in bar. Er kennt Ärzte, die so Millionen beiseite geschafft haben (im extremsten Fall sind es nachweislich 25 Mio. €).
Ein Wirtschaftsprofessor der Athener Universität, dessen Einkommen er mir als „ungefähr die Hälfte eines mit allen Privilegien versehen Lokomotivführers“ beschrieb und der im Gegensatz zum Lokomotivführer auch erst mit 67 in Rente gehen kann, warnte deshalb vor dem Gießkannenprinzip. „Der IWF muss bei seiner Arbeit vor Ort die Bereiche identifizieren, wo obszöne Leistungen unter dem Beifall der griechischen Bevölkerung gekürzt werden können und gleichzeitig die Basis für die Steuererhebung verbreitern“. Das alles ist aber leichter gesagt als getan, da die Verantwortlichen selbst Günstlinge des Systems sind und häufig gemeinsame Sache mit denen gemacht haben, denen sie jetzt an den Kragen gehen sollen.
Der griechische Staat ist arm, die Bevölkerung, wenn auch mit großen Unterschieden, relativ wohlhabend. 83% der griechischen Haushalte verfügen über Wohneigentum. Die private Verschuldung ist mit 40 Prozent des BIP relativ gering, wenngleich durch das niedrige Zinsniveau und den immer populäreren Einsatz von Kreditkarten in den letzten Jahren stark angestiegen.
Das Timing für den Besuch in Athen war gut gewählt. Am Donnerstag, den 22.04.2010, knockten die Märkte die zögerliche Regierung Papandreou (der Dritte !!!) aus. Als ich nach der Landung in Athen gegen 19:00 Uhr meine Mails checkte, zeigte das Display eine Rendite 2-jähriger Griechenanleihen von über 10 Prozent. Die größte Demokratie der Welt, der Kapitalmarkt, hat abgestimmt und zwingt die älteste Demokratie dazu, ein Hilfsgesuch einzureichen. Am nächsten Tag war es dann soweit.
Mein Taxifahrer sah das fatalistisch: „Even after an atomic bomb, cockroaches and Greeks will be alive” alive”. So ist es, denn eine Staatspleite oder „Schuldenrestrukturierung“ ist nun mal nicht das Ende eines Staates. Es geht weiter, mit oder ohne Hilfen der EU.
Das deutsche Finanzministerium hat sich übrigens nicht sonderlich für Details aus Griechenland interessiert. Ein in Berlin durchaus bekannter potenzieller Ansprechpartner in Athen beschrieb mir das politische Desinteresse des deutschen Finanzministeriums. „Berlin hat hier niemanden konsultiert, der die Missstände im Detail kennt und sie objektiv beschreiben kann“. Stattdessen hofft man, dass der IWF die Kernarbeit erledigt.
So gesehen sollten wir nicht über Griechenland schimpfen. Während sich die Politiker dort gerne selbst bereichern, schmeißen unsere das Geld lieber gleich zum Fenster hinaus.
Fazit:
Eine Lösung der griechischen Misere kann nur durch die Adressierung aller vier oben genannten Punkte und Mitwirkung aller Beteiligten erfolgen. Die Gläubiger müssen auf einen erheblichen Teil ihrer Forderungen verzichten und Griechenland muss einen Restrukturierungsplan vorlegen und umsetzen. Schließlich muss die Bevölkerung die Notwendigkeit dieser Maßnahmen akzeptieren, besser noch verinnerlichen, und aktiv an deren Gelingen mitarbeiten.
Auf diese Weise kann auch die gefürchtete Ansteckungsgefahr auf andere Länder in der Eurozone begrenzt werden. Sie würden zu einem proaktiven Handeln gezwungen, statt sich zurückzulehnen und auf Rettung zu warten. Auch dem Moral Hazard auf Investorenseite würde Einhalt geboten. Wer Staatsanleihen kauft, sollte seine Hausaufgaben machen und nicht mit der Drohung des eigenen Untergangs eine Rettung auf Kosten der Steuerzahlers erzwingen.
Für Anleger bedeutet dies: Immer noch Finger weg von Griechenanleihen.