Damit nicht genug. Andere Börsenbarometer sind sogar noch stärker gefallen, der DAX um 17 Prozent und der Hang Seng um 16 Prozent (zum Zeitpunkt der Drucklegung). Was als lokal begrenztes Problem auf dem amerikanischen Subprime-Anleihenmarkt begann, hat sich inzwischen in eine massive internationale Finanzkrise ausgeweitet, die die USA aller Wahrscheinlichkeit nach in eine Rezession stürzen wird.
Rezession: Ja/Nein?
Die jüngsten Konjunkturdaten deuten bereits darauf hin, dass die US-Wirtschaft zum Jahreswechsel in eine Rezession abgerutscht ist. "Ob es sich dabei auch offiziell um eine Rezession handelt, wissen wir erst beim nächsten Treffen des Business Cycle Dating Committee beim National Bureau for
Economic Research mit Sicherheit", so Keith Wade, Chefvolkswirt bei Schroders. Diese Kommission entscheidet nämlich darüber, ob und wann die US-Wirtschaft sich in einer Rezession befindet. Angesichts des deutlichen Anstiegs der Arbeitslosenrate und des rückläufigen Immobilienmarktes hat es jedenfalls den Anschein.
Jede Krise lässt sich treffsicher auf einen prägnanten Spruch reduzieren. Das passende Bonmot zu dieser Krise formulierte der CEO der Citigroup, Chuck Prince, bei einem Interview mit der Financial Times im Juli letzten Jahres. Auf die Frage nach Citigroups Engagement an den Kreditmärkten, an denen es im Jahresverlauf bereits zu einigen Erschütterungen gekommen war, antwortete Prince: „So lange die Musik spielt, musst du aufstehen und tanzen. Wir tanzen noch.“ – was besagt: „Solange ausreichend Liquidität vorhanden ist, solange wird sich Citigroup an den Kreditmärkten engagieren.“ Eine ungewöhnliche Bemerkung aus dem Munde des Vorstandsvorsitzenden einer führenden Bank – die in der Folge rund 18 Mrd. US-Dollar Subprime-Verluste abschreiben musste.
Licht bitte...
Wie Citigroup und andere Finanzinstitute zu ihrem Leidwesen feststellen mussten: Erst wenn das Licht angeht, weiß man, mit wem man tanzt. Das Licht ist jetzt an, und Herr Prince hat sich inzwischen von der Tanzfläche verabschiedet. Die Citigroup stand mit ihren Verlusten natürlich nicht allein da, denn auch Merrill Lynch, Morgan Stanley und UBS mussten herbe Verluste hinnehmen. Nach Meldungen der Financial News mussten infolge des Subprime-Debakels bereits Verluste von insgesamt 108 Milliarden Dollar abgeschrieben werden.
Die Krise zieht weite Kreise und belastet bereits die Realwirtschaft in den USA und Europa. Sowohl die Federal Reserve als auch die Bank of England und die Europäische Zentralbank vermelden eine erhebliche Verschärfung der Kreditvergabekriterien, da Darlehensgeber zunehmend risikoscheuer werden und ihr Kreditexposure verringern. Die Entscheidung der britischen Internetbank Egg, 160.000 ihrer Kunden die Kreditkarten zu entziehen, illustriert diesen Prozess der Kreditdrosselung in deutlicher Weise.
Grund für die Sperrung ist die Befürchtung, dass Risikokunden sich übernehmen könnten. Wer noch eine Egg-Kreditkarte hat, hat damit wohl einen gewissen Spielraum, aber diese Entscheidung fiel der Citigroup, der Muttergesellschaft von Egg, mit Sicherheit nicht leicht. In jedem Fall wird deutlich, dass die Verluste am amerikanischen Subprime-Markt jetzt reale Konsequenzen für den britischen Einzelhandel haben. Von den voraussichtlichen Folgen für Konjunktur und Märkte abgesehen: Es drängen sich zwei grundsätzliche Beobachtungen im Hinblick auf die Krise und ihre Ursprünge auf.
Krise als alter Hut
Zunächst einmal ist diese Krise nichts Neues. Es gibt bereits zahllose Beispiele für vergleichbare Entwicklungen an den Finanzmärkten, bei denen eine anfangs innovative Idee letztlich zum Crash führte. Innovation erhöht zunächst die Verschuldung an, da Kredite gerne als Spekulationskapital genutzt werden. Ist die Idee erfolgreich, kommt es zu einer Phase, in der jeder auf den fahrenden Zug aufspringen will. Diejenigen Investoren, die sich erst in dieser zweiten Phase beteiligen, sind häufig weniger gut informiert als die Vorreiter, die nun bereits verkaufen. In der Folge steigt die Schuldenlast überproportional an und Risiken werden falsch bewertet.
Derartige Phasen können ziemlich lange anhalten; die Spekulationsblase bläht sich derweil ungehindert auf. Der Governor der Bank of England, Mervyn King, wies erst kürzlich darauf hin, dass er bereits seit zwei Jahren vor der verzerrten Bewertung von Risiken an den Finanzmärkten warnt. Am Ende steht für viele Investoren die bittere Erkenntnis, dass sie niemanden mehr finden, der dumm genug ist, um zu kaufen, und die Blase platzt. Dieselben Banken, die zuvor noch eifrig das Aufblähen der Blase mitfinanziert hatten, drehen im Zuge einer Neubewertung ihrer Darlehenspraktiken nunmehr den Kredithahn zu. Finanzielle Enge und Kreditkrise sind die Folge.
Dieser Prozess fand zuletzt während des Hightech-Booms in den 1990er Jahren statt, weitere Beispiele sind die britische Hauspreisblase in den 1980er Jahren, die „Nifty 50“ in den 1960ern und der Boom der Konglomerate in den USA in den 1970ern.
Zwei Dinge auf einmal
Diesmal kamen zwei Dinge zusammen: Leute, die sich normalerweise keine Hypothek hätten leisten können, waren dazu bei Zinssätzen von nur einem Prozent auf einmal sehr wohl in der Lage. Die Zinsen waren 2003 von Alan Greenspan, dem damaligen Chef der amerikanischen Notenbank, auf ein Prozent gesenkt worden, als man eine Deflation befürchtete. Das finanztechnische Novum bestand darin, dass die Bank ihre Kreditforderungen verbriefen und an andere Investoren weiterverkaufen konnten. Also boomte der Subprime-Markt.
Man war der Meinung, das Risiko mit der Verbriefung effektiv zu streuen, wodurch ein noch nie da gewesener Grad an Fremdverschuldung möglich wäre. Den Kreditgebern war zweifellos bewusst, dass Zinsen in Höhe von einem Prozent nicht von Dauer sein würden. Da sie indes nicht das letztendliche Risiko trugen, wurde dies gerne in Kauf genommen. Die Investoren verließen sich derweil einzig auf die Aussagen der Rating-Agenturen, die die Anleihen nach ihrer Bonität einstuften. Dieses Vertrauen hat sich freilich als völlig fehl am Platze erwiesen: Die Arbeitsweise der Rating-Agenturen und die systemimmanenten Interessenkonflikte müssen nunmehr grundsätzlich überdacht werden. Erschwerend kam hinzu, dass im Zuge der Marktbewegungen auch die Mängel der Standard-Risikomodelle zu Tage traten. Am Markt setzte sich allmählich die schmerzliche Erkenntnis durch, dass die Kurse sich durchaus nicht an den vom Value at Risk (VaR) gesetzten Rahmen halten.
Auslösende Faktoren noch vorhanden
Rückblickend betrachtet erscheint dies nun offensichtlich, aber die Faktoren, die diese Situation herbeigeführt haben, bestehen nach wie vor. Es liegt in der Natur des Finanzsystems, enormen Druck auf Marktteilnehmer auszuüben, lukrative Strategien zu kopieren. Sobald in einem Marktsegment Gewinne eingefahren werden, zieht dieses Segment andere Marktteilnehmer an – auch wenn sie die zugrunde liegenden Prinzipien nicht ganz verstehen. Die Asymmetrie bei der Belohnung von Unternehmenseignern und Managern trägt noch zur Verzerrung dieses Prozesses bei.
"Wir mögen uns über den Kommentar von Chuck Prince amüsieren, sollten dabei aber nicht vergessen, dass ihm der Abschied mit einem goldenen Handschlag versüßt wurde", so Wade. "Das gilt im Übrigen auch für Stan O’Neill von Merrill Lynch. Aber auch weiter unten in der Hierarchie werden immer noch saftige Boni ausgezahlt, während die Eigner tatenlos zusehen müssen, wie der Wert ihrer Aktien fällt." Gleichzeitig führt der Zustrom neuen Kapitals u. a. aus den Devisenvorräten Chinas und Singapurs zu einer zunehmenden Verwässerung der Anteilswerte.
Dabei scheint es sich um den klassischen Zielkonflikt zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer im Bankensektor zu handeln: Der Aktionär trägt den Löwenanteil des Risikos, während der Manager den größten Teil der Belohnung bekommt. Dabei bestehen natürlich Unterschiede zwischen den einzelnen Finanzinstituten, in der Regel mangelt es der Gegenleistung jedoch an Symmetrie. Derartige Probleme werfen die grundsätzliche Frage auf, wie börsennotierte Finanzkonzerne geführt werden sollen und ob sie überhaupt führbar sind.
„Goldlöckchen-Szenario“
Gehen diese Ausführungen vor allem auf die mikroökonomische Seite des Problems ein, nähert sich die zweite Beobachtung dem Problem eher aus makroökonomischer Perspektive. Die Krise kam aus heiterem Himmel. Die Weltwirtschaft schrieb solide Wachstumszahlen, die Inflation war unter Kontrolle und die Volatilität an den Finanzmärkten gering. Unter Volkswirtschaftlern sprach man vom „Goldlöckchen-Szenario“, bei dem die Konjunktur weder zu heiß noch zu kalt läuft, so dass das Wachstum genau im richtigen Tempo voranschreitet, ohne Gefahr von Inflation oder Deflation.
Dabei darf man allerdings nicht vergessen, dass die zinspolitischen Zügel bereits vor der Krise gestrafft wurden. Rund um den Globus stiegen die Zinsen. Dies galt allerdings als Prozess der geldpolitischen Normalisierung, denn zuvor waren die Zinsen extrem niedrig. Die Kreditkosten stiegen zusammen mit der Wiederbelebung der Wachstumserwartungen, da die Weltwirtschaft sich von der Rezession erholte, die durch das Platzen der Technologieblase ausgelöst wurde. Insofern wurde die geldpolitische Straffung als stützender Prozess gesehen, der sich grundsätzlich von früheren Perioden unterschied, in denen die Zinsen zum Schutz vor Inflation erhöht wurden.
Eingehen höherer Risiken
Dieser positive Rahmen bildete das ideale Umfeld zum Eingehen höherer Risiken, denn stetiges Wachstum und zinspolitische Stabilität drückten Zahlungsausfälle und Volatilität auf neueste Tiefststände. Zudem verengten sich die Spreads risikoreicherer Anlagen deutlich. Dass sich bereits der Auslöser für eine massive Ausweitung der Spreads abzeichnete, war nur den wenigsten bewusst. Das geringere Risiko fachte die Risikofreude der Investoren an den Finanzmärkten immer weiter an.
Das Risikoniveau veränderte sich zwar insgesamt nicht, sondern verlagerte sich vielmehr von einem Segment der Finanzmärkte in ein anderes. Es handelt es sich um ein bekanntes psychologisches Phänomen, wonach Menschen die Verringerung von Risiko in einem Lebensbereich mit der höheren Risiken an anderer Stelle ausgleichen. So beobachtete man in den USA nach der Einführung von Sicherheitsgurten eine Zunahme von Geschwindigkeitsübertretungen. Es scheint wirklich so zu sein, dass Menschen bereit sind, insgesamt ein gewisses Maß an Risiko zu übernehmen, das nur schwerlich verringert oder erhöht, sondern nur unterschiedlich verteilt werden kann.
Stabilität führt zu Instabilität
Nach den Worten des Ökonomen Hyman Minsky führt Stabilität notwendigerweise zu Instabilität. Minsky zufolge sind das Auf und Ab der Konjunktur sowie das Schwanken des Finanzsystems zwischen Stärke und Schwäche prägende Merkmale unseres Wirtschaftssystems. Nach seinem Dafürhalten führt der durch Kreditaufnahme und Spekulation geschaffene Wohlstand einer gesunden Volkswirtschaft zwangsläufig zu Blasen und Crashs an den Finanzmärkten. Dabei wird der konjunkturelle Zyklus von einer wirtschaftlich stabilen Situation ausgelöst.
Eine Ironie des Schicksals: Die Verantwortlichen für die Geldpolitik haben sich jahrelang um eine stabile Volkswirtschaft bemüht – nun sehen sie sich mit einer Vielzahl neuer Probleme konfrontiert, die sie selbst durch ihren Erfolg heraufbeschworen haben. Zweifelsohne werden die Experten noch über die Ursachen für die gegenwärtige Subprime-Krise streiten, wenn sich die US-Wirtschaft bereits wieder erholt hat. Die entscheidende Frage ist, ob der Markt stärker reguliert werden muss oder bloß dem Zusammentreffen unglücklicher Umstände zum Opfer gefallen ist. Alles in allem hat es den Anschein, dass die Kombination aus stabilem makroökonomischem Umfeld und innovationsgetriebenem Bankensystem ein erhebliches Krisenpotenzial birgt. Der Zielkonflikt zwischen Eignern und Managern verschärft das Dilemma noch.