In der Theorie entspricht der Wert einer Aktie (oder mehrerer in einem Index zusammengefasster Aktien) den aggregierten Einschätzungen der zukünftigen Gewinne und Dividenden durch die Marktteilnehmer.
In der Praxis vergleichen Investoren die erwarteten Erträge mit denen anderer Assetklassen wie Immobilien, Renten, Gold und Kasse. Einzelwertorientierte Investoren zahlen mehr für ein Unternehmen oder einen Sektor, wenn sie ein überdurchschnittliches Wachstum erwarten. Portfoliomanager investieren in ein Land, wenn sie ihm ein höheres Wachstum zutrauen als anderen Ländern.
Aber was passiert, wenn alle Aktien überbewertet sind? Was passiert, wenn alle Investoren falsch liegen und der ganze Markt sich selbst überholt hat? Manchmal ist der Gesamtmarkt überbewertet, getrieben von überschäumenden Erwartungen, Herdenverhalten und zu viel Liquidität. Zu anderen Zeiten ist er aber auch unterbewertet – er bricht ein aufgrund extremer Ängste. Woher wissen wir, wann wir eine Aktie verkaufen oder einen Markt verlassen sollen?
Kurs-Gewinn-Verhältnisse
Der häufigste Bewertungsindikator ist das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV). Angewendet auf den Gesamtmarkt dividiert es den aktuellen Indexstand durch die Erträge der letzten zwölf Monate. Verbreitet ist auch das zukunftsgerichtete Kurs-Gewinn-Verhältnis, bei dem der Indexstand durch die Gewinnschätzungen der Analysten für die nächsten zwölf Monate geteilt wird. Problematisch an dieser Kennzahl ist, dass die Wall Street in der Vergangenheit zu optimistisch war.
Konjunkturelle Bereinigungen
Man kann aber auch die durchschnittlichen Gewinne in Auf- und Abschwüngen verwenden. Namhafte Experten wie Shiller, Graham und Dodd haben Methoden entwickelt, mit denen sich die konjunkturbereinigte Bewertung bestimmen lässt. Dadurch sollen Investoren besser abschätzen können, ob ein Markt über- oder unterbewertet ist.
Aber die Bewertungskennziffern können falsche Signale senden, wie folgendes Beispiel zeigt: In den späten 1990er Jahren zeigte das konjunkturbereinigte KGV einen überbewerteten Markt an. Vielleicht war er das wirklich. Dennoch stiegen die Kurse noch mehrere Jahre. Hinzu kommt eine weitere Schwierigkeit: Ändern sich die Bilanzierungsregeln, sind die ausgewiesenen Unternehmensgewinne nicht mehr über die Zeit vergleichbar.
Andere Bewertungsmethoden
Es gibt noch viele andere Bewertungskonzepte. In der Praxis wird bisweilen die Gesamtmarktkapitalisierung ins Verhältnis zum amerikanischen BIP gesetzt. Demnach wäre der Markt zurzeit um 15-20% überbewertet. Da allerdings 40% der Umsätze der S&P-500-Unternehmen nicht aus den USA stammen, kann der Markt nach dieser Kennzahl leicht teuer erscheinen.
Ich meine, dass alle vorgestellten Bewertungsmethoden ihre Berechtigung haben. Zeigen alle Indikatoren in dieselbe Richtung, ist dies ein wichtiges Zeichen. Es ist aber noch keine ausreichende Basis für unsere Anlageentscheidungen. Dazu müssen wir ein Gefühl dafür haben, an welcher Stelle des Konjunkturzyklus wir uns befinden.
Nach dem Verlauf des ersten Quartals glaube ich, dass der aktuelle Zyklus noch lange dauern wird: Trotz Wachstumsrückgang stiegen Umsätze und Gewinne weiter, und die Gewinnmargen erholten sich wieder. Seit dem Tiefpunkt der letzten Rezession ist der Markt gerade so stark gestiegen wie die Gewinne. Solange die Konjunktur stabil bleibt, rechtfertigen steigende Gewinne meiner Meinung nach Bewertungen, die heute noch als zu hoch gelten.
James Swanson, Chief Strategist, MFS Investment Management
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