"Es ist schon eine ganze Weile her, dass die Lage an den Märkten so unvorhersehbar und unüberschaubar war wie momentan. Die Regeln, die während der langen Phase der Nullzinsen und quantitativen Lockerung galten, zählen plötzlich nicht mehr und werden aus dem Stegreif neu geschrieben. Lange Zeit existierte in den Köpfen der Anleger eine Art Handbuch mit einer Reihe von groben, aber einigermaßen plausiblen Regeln, wie sie auf bestimmte Veränderungen der Wirtschaft oder der Geldpolitik zu reagieren hatten. Diese alten Regeln funktionieren nicht mehr.
Bedenkt man, welch komplexe Mechanismen dem Finanzsystem zugrunde liegen, dürfte es nicht überraschen, dass ein ganzes Jahrzehnt unkonventioneller Geldpolitik vielschichtige und schwer absehbare Auswirkungen hat. Die Anleger beurteilen anhand unterschiedlicher Indikatoren, ob diese Mechanismen noch intakt sind. Die US-Notenbank Fed verkleinert ihre Bilanz, was sich auf das weltweite Wachstum der Geldmenge M2 auswirkt. Unterdessen versetzt die dramatische Vergrößerung des Spreads zwischen unbesicherten Kreditzinsen und Overnight-Swaps (Höchststand des LIBOR-OIS-Spread seit 2008) den Markt in Angst und Schrecken, denn dieser Indikator signalisiert Stress im Finanzsystem.
Hinzu kommt ein politisches Umfeld, das von plötzlichen und unerwarteten Ereignissen geprägt ist – der abrupte Ausbruch von Handelskriegen, Trumps verbale Angriffe gegen Amazon oder die im Handumdrehen eskalierten Spannungen mit Russland; all dies verstärkt die Unsicherheit.
Der Blick auf die Fundamentaldaten zeigt indes, dass die Weltwirtschaft nach wie vor expandiert, wenn auch nicht mehr in dem einst beobachteten Tempo. Laut der letzten Umfrage des Institute for Supply Management (ISM) schrieb das verarbeitende Gewerbe in den USA im März abermals Wachstumszahlen, die allerdings nicht so hoch waren wie im Februar. Dies bestätigte die von uns bereits an anderer Stelle angesprochene Angst, dass der globale Aufschwung vorerst sein Ende erreicht hat. Wir sind eher weich gelandet, und nun wird darüber diskutiert, ob die Konjunktur angesichts von Handelskriegen und geldpolitischer Straffung überhaupt wieder Tritt fassen kann. Gleichzeitig können die Unternehmen im Allgemeinen eine erfreulichen Ertragsentwicklung vorweisen. Doch der Markt wird längst nicht mehr von Konjunkturdaten und Ertragszahlen bestimmt. Betrachten wir beispielsweise das KGV, die am häufigsten verwendete Bewertungskennzahl: Es sind nicht in erster Linie die Gewinn (also das „G“), die am Markt für Beunruhigung sorgen (auch wenn Unternehmen, die nicht genügend Erträge generieren, natürlich sofort abgestraft werden), sondern das Vielfache dieser Gewinne, das Anleger angesichts der dem Markt entzogenen Liquidität zahlen. Und für viele Beobachter liegt es auf der Hand, dass eine niedrigere Inflation und ein geringeres Wachstum unweigerlich zu einem Rückgang der KGVs führen werden.
Crowded Trades
Während sich der Markt um Bewertungskennzahlen und höhere Realzinsen Sorgen macht, werden die Positionen von Crowded Trades abgewickelt. Dies hatten wir seit Längerem erwartet. Auch haben wir in der Vergangenheit klar signalisiert, uns aus Crowded Trades herauszuhalten. Doch es ist nicht immer möglich, vor Eintritt eines marktbestimmenden Ereignisses zu erkennen, welche Segmente überfüllt sind. Dass die ikonenhaften FANG-Werte bei einer Richtungsänderung in Schwierigkeiten geraten könnten, war offensichtlich; es bestand ein quasi universeller Marktkonsens, diese Titel überzugewichten. Nicht so absehbar war hingegen, dass deutlich günstiger bewertete Technologieaktien, die gewissermaßen zyklische Value Stocks im Gegensatz zu langfristigen Wachstumswerten darstellen, zusammen mit den FANGs ins Verderben gerissen würden.
Ebenfalls war zu erwarten, dass Unternehmen mit einem immer weiter steigenden Fremdkapitalanteil (selbst solche in traditionell defensiven Branchen) bestraft werden würden. Nachdem es den Markt jahrelang nicht interessierte, dass die Verschuldung im Unternehmenssektor kontinuierlich zunahm, setzt sich nun endlich die Erkenntnis durch, dass die Realzinsen anziehen werden. Im Vergleich zu einigen unserer Konkurrenten haben wir die klassischen ertragsstarken Branchen wie Gesundheit, Immobilien, Versorger und antizyklische Konsumgüter niedriger gewichtet. Wir antizipierten, dass diese Bereiche mit hoher Duration an Attraktivität verlieren würden, sobald die Renditen steigen. Viele Unternehmen in diesen Branchen haben in den letzten zehn Jahren Schulden angehäuft, um Aktienrückkäufe und immer höhere Dividendenzahlungen zu finanzieren. Da die risikolosen Zinsen steigen, sieht es für Unternehmen mit größtenteils variabel verzinsten Finanzierungen schlecht aus. Es war also hilfreich, diese Titel und auch die FANGs zu meiden.
Ausblick: Datenabhängig
Wir sehen deutlich, dass sich die Märkte eher in Richtung eines Risk-off-Modus bewegen. Die Möglichkeit, dass eine Abkühlung der Konjunktur schneller einsetzen könnte als wir zunächst dachten, vor allem aufgrund drohender Handelszölle, zählt zwar nicht zu unseren zentralen Erwartungen, aber wir akzeptieren sie. Dabei dürften sich die Zölle selbst nur in begrenztem, zu vernachlässigendem Umfang auf das globale Wachstum auswirken. Die eigentlichen Kosten eines Handelskrieges spiegeln sich vielmehr in den steigenden Risikoprämien wider.
Unterdessen sehen wir keine Rezession auf uns zukommen und deshalb sind wir – noch – nicht bereit, unsere eher prozyklische Positionierung aufzugeben. In Bezug auf die letzten Jahre stellen wir ein bestimmtes Muster im Wachstum der US-Wirtschaft fest: Während das erste Quartal tendenziell enttäuschend verlief, hellte sich die Lage im Frühling und Sommer wieder auf. Ob es sich hierbei um ein rein statistisches Phänomen handelt, ist ohne Belang. Die Märkte reagieren dennoch. Value Stocks bzw. zyklische Titel sind für uns kein rotes Tuch per se. Wir werden entsprechende Positionen in einigen Bereichen vielleicht sogar wieder aufstocken. Dies hängt allerdings davon ab, wie die Daten – also Ertragszahlen – aussehen, die in den nächsten Wochen veröffentlicht werden. Die Zusammensetzung unseres Portfolios bleibt datengetrieben – so wie auch die Beschlüsse der Fed."
Jacob de Tusch-Lec, Fondsmanager, Artemis Global Equity Income Fonds
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