Die Anleger reagieren zunehmend nervös auf die neue Realität, die gerade Gestalt annimmt. Seit der globalen Finanzkrise hatte die Geldpolitik einen überragenden Einfluss auf die Entwicklung an den Börsen. Wichtigstes Erfolgsrezept war in dieser Ära, sich nicht gegen die US-Notenbank zu stellen – ein Luxus, mit dem es nun bald vorbei ist.
Parallel zum Rückzug der Notenbanken gewinnen andere Kräfte an Einfluss und verleihen den Märkten mehr Diversität. Andere Risiken – geopolitischer, demografischer und handelspolitischer Natur – dringen ins Bewusstsein der Marktteilnehmer. Die Risikolandschaft ist vielfältiger geworden, und die Anleger sind gefordert gründlicher darüber nachzudenken, in welche Richtung sich die Märkte wohl bewegen werden.
Naturgemäß sinkt das Vertrauen in bisherige Lösungen, wenn Anleger sich auf neue Gegebenheiten einstellen, über eine Vielzahl von Faktoren nachdenken und bewährte Strategien aufgeben müssen, die zur Lösung immer komplexerer Probleme nicht mehr taugen.
Ein derartiger Vertrauensschwund kann dazu führen, dass schon unbedeutende neue Informationen zu Unbehagen und deutlichen Reaktionen führen, mit der Folge heftiger Marktbewegungen. All dies hat nichts mit wachsender wirtschaftlicher Unsicherheit zu tun, sondern zeugt lediglich von einer überspannten Anlegerpsyche.
Besonders klar erkennbar wurde dies am 5. Februar 2018, als der Volatilitätsindex der Terminbörse in Chicago (CBOE), der die implizite Volatilität des S&P 500 misst, plötzlich um unerhörte 20 Punkte auf 37 hochschnellte – in den zwölf Monaten davor hatte er im Durchschnitt bei 11 gelegen. Die Episode glich einem gewaltigen Ausbruch eines lange Zeit ruhenden Vulkans, von dem die Anleger völlig überrascht wurden. Selbst im Rückblick lässt sich nur schwer sagen, was genau zu dieser Entwicklung geführt hatte, in deren Verlauf der Dow Jones Industrial Average seinen größten Intraday-Verlust erlitt. Bei Handelsschluss betrug das Minus noch 4,6% – der stärkste Einbruch seit der europäischen Schuldenkrise vom August 2011.
Dabei hatte sich die Datenlage kaum verändert. Die Wirtschaft war nicht plötzlich instabil geworden – nur hatten es die Anleger schlicht mit der Angst bekommen. Nachdem der Moment der Furcht vorüber war, kehrte der VIX allmählich zu seinem langfristigen Durchschnitt zurück.
Der Mangel an Zuversicht wurde am 29. Mai 2018 erneut sichtbar, als die Renditen zweijähriger italienischer Anleihen um 1,86 Prozentpunkte stiegen. Hintergrund war das Veto, das Italiens Präsident Sergio Mattarella gegen die Ernennung eines Finanzministers einlegte und mit dem er Pläne für die Bildung einer neuen Koalitionsregierung vorerst durchkreuzte. In der Folge gaben die Renditen 10-jähriger US-Staatsanleihen stark nach, da viele Anleger Schutz in sicheren Häfen suchten. An einem einzigen Tag büßten die Treasury-Renditen 15 Basispunkte ein – das war der größte Tagesrückgang seit Juni 2016.
Auch hier stand die Reaktion der Märkte in keinem Verhältnis zur Bedeutung des Ereignisses, das sie ausgelöst hatte. Jüngstes Beispiel einer ähnlichen Entwicklung ist möglicherweise die Türkei. Vom 8. bis zum 17. August verzeichneten die Aktienmärkte der USA und Japans heftige Schwankungen – auf hohe Verluste folgte ein scharfer Wiederanstieg. Auslöser waren die Krise in der Türkei und Ängste vor einem Ansteckungseffekt. Der VIX schoss in dem Zeitraum um fast 60% in die Höhe, fiel jedoch kurz darauf wieder genauso steil.
Solche Reaktionen lassen an die bekannte Aussage der Chaostheorie denken, wonach der Flügelschlag eines Schmetterlings in Afrika einen Tsunami im Pazifik auslösen kann. Der „Schmetterlingseffekt“ besagt, dass schon eine kleine Änderung der Ausgangsbedingungen gravierende Folgen für den weiteren Lauf der Dinge haben kann – das Kennzeichen von Instabilität.
Weder die weltweiten Konjunkturdaten noch die Zahlen der Unternehmen liefern Gründe für eine solche Verunsicherung. Vermutlich nimmt die Nervosität zu und wird weiter zunehmen, weil die Anleger sich schwer damit tun, den potenziellen Effekt einer gestiegenen Zahl von Faktoren (jenseits der Politik der Notenbanken) einzuschätzen.
Durch die neuen Gegebenheiten könnten sich zwar Chancen für resolute Anleger eröffnen, die das „Marktrauschen“ ignorieren und Warren Buffett folgen wollen, der geraten hatte zu investieren, „wenn Blut auf der Straße ist“. Die Kursrückschläge müssten jedoch noch heftiger werden, bevor die Unerschrockenen diesen Schritt tatsächlich wagen würden. Um das derzeitige Umfeld zu verstehen, darf der Blick jedenfalls nicht nur auf die Notenbanken gerichtet werden.
In einer Situation, in der die Risiken vielfältiger und nicht mehr wie bisher durch die Notenbanken abgefedert werden, müssen sich Anlageklassen und Wertpapiere wieder aus eigener Kraft behaupten. Einige werden das können, andere nicht. Heterogenität wird dadurch wieder zum prägenden Merkmal der Börsen. Das zeigt sich aktuell an den Optionspreisen. Sie geben äußerst effizient Auskunft darüber, wie der Markt das Potenzial für Kurssteigerungen einerseits (ablesbar an den Preisen von Call-Optionen) und die Risiken andererseits (ablesbar an den Preisen von Put-Optionen) beurteilt.
Signalisiert wird eine klare Präferenz für den S&P 500 gegenüber allen anderen Regionen. Eine deutlich negative Haltung offenbaren die Optionspreise unterdessen in Bezug auf europäische Aktien.
Nicht nur die Attraktivität der Aktienmärkte in den verschiedenen Regionen wird sehr unterschiedlich beurteilt, sondern auch das Maß der jeweils zu erwartenden Unsicherheit. So signalisieren die Optionspreise, dass das Potenzial für eine Zunahme der Aktienvolatilität in Europa sehr viel größer ist als in den USA. Der Optionsmarkt hält die Wahrscheinlichkeit, dass die implizite Volatilität steigen und nicht fallen wird, beim V2X-Index (Euro Stoxx 50) für wesentlich höher als beim VIX (S&P 500).
Angesichts der wachsenden Bedeutung weiterer Risikofaktoren können die Anleger nicht mehr nur einen einzigen Faktor, die Geldpolitik, ins Kalkül ziehen. Erforderlich ist eine breitere, auch kreativere Analyse. Mit einfachen Denkschablonen wird man kaum Erfolg haben können.
Das Abrücken von der Vorstellung von der Notenbank als wichtigstem Treiber der Marktentwicklung und der Übergang zu einer neuen, wesentlich komplexeren Betrachtungsweise gehen mit vielfältigen, ungewohnten Risiken einher. Solange die Anleger in der neuen Normalität, die ja zugleich die alte ist, noch nicht angekommen sind, wird es ihnen wohl noch eine Weile an Mut und Tatkraft mangeln.
In turbulenten Zeiten wie diesen werden nervöse Stimmungen an den Börsen die Oberhand behalten.
Ash Alankar, Head of Global Asset Allocation, Janus Henderson
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