ESG-Kriterien rücken Länder ins Rampenlicht, deren Politik zu nachhaltigem Wachstum, einer nachhaltigen Verschuldung und nachhaltigen Renditen für die Anleger führen.
Ein rascher und nachhaltiger Anstieg des Einkommensniveaus sorgt in der Regel mittel—und langfristig für eine höhere Bonität. Studien belegen, dass das Einkommensniveau einer Volkswirtschaft, gemessen als BIP pro Kopf, in hohem Mass mit den erreichten Entwicklungszielen des Landes korreliert. Das bedeutet: Je reicher ein Land, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es über moderne Schulen, mehr Krankenhäuser, eine zeitgemässe Infrastruktur und ein besser funktionierendes Justizsystem verfügt. Eine sich verbessernde Bonität eines Staates bestimmt ausserdem massgeblich die Renditen von Staatsanleihen aus Schwellenländern (Emerging Markets, EM)—und die Bonität korreliert wiederum mit dem Einkommensniveau.
Risiken oder Ursachen?
Manche Anleger achten eher auf bestehende Risiken als auf die Einhaltung konkreter ESG-Werte. Das führt dazu, dass sie ihren Fokus eher auf soziale Risiken als auf die soziale Verantwortung von Regierungen richten. So würden sie nach diesem Ansatz möglicherweise einem Land, das aufgrund eines Krieges in einem Nachbarstaat von einer unerwarteten Flüchtlingswelle betroffen ist, ein schlechtes ESG-Rating zuweisen. Andere Anleger wiederum richten ein stärkeres Augenmerk auf Entwicklungsziele wie das Erreichen eines bestimmten Bildungsniveaus oder die Effizienz des Gesundheitssystems. Diese Anleger würden womöglich Ländern mit einer geringeren Anzahl an Krankenhausbetten pro Einwohner einen schlechteren ESG-Wert zuweisen.
Effektiver ist eine dynamische Analyse, welche die besonderen institutionellen Rahmenbedingungen jedes Landes und die aktuellen Trends bei den Fortschrittsbemühungen berücksichtigt.
Eine zielführende ESG-Analyse
Viele herkömmliche ESG-Indikatoren beschränken sich auf die Messung von Ergebnissen und lassen die Ursachen dabei weitgehend ausser Acht. Das kann allerdings zu einer eingeschränkten Perspektive führen. Denn die Ergebnisse liefern kaum mehr Erkenntnisse über ein Land als gängige Wirtschaftsindikatoren.
Eines genaueren Blickes würdig sind darum Indikatoren, die eine bessere Prognose des mittel—bis langfristigen Wachstums sowie der Finanzlage und der Entwicklungsergebnisse zulassen. Noch vielversprechender sind Indikatoren, die auf berechenbaren Kanälen basieren. Hier besteht die Herausforderung darin, dass es mitunter sehr schwierig sein kann, sowohl eine Korrelation als auch eine Kausalität festzustellen. Viele Studien haben ergeben, dass es in den meisten Fällen nicht klar ist, ob die Korrelation zwischen einem Entwicklungsergebnis und nachhaltigem Wachstum negativ oder positiv ist. Noch schwieriger zu bestimmen ist oftmals die Kausalität, insbesondere wenn sie nicht durch ein aussagekräftiges theoretisches Modell gestützt wird.
Anbieter von ESG-Studien zur Messung von Ungleichheit stützen sich häufig auf Indikatoren wie den Gini-Koeffizienten, den Zugang zur Gesundheitsversorgung und die Einkommensungleichheit der Geschlechter. Diese können jedoch irreführend sein: Ist es tatsächlich so, dass Einkommensungleichheit die politische Ungleichheit beeinflusst, was wiederum Wachstum und Entwicklung prägt? Oder ist es eher so, dass ungleiche politische Rechte zu wirtschaftlicher Ungleichheit führen, was sich dann auf Wachstum und Entwicklung auswirkt? In der Literatur gibt es zu dieser Frage widersprüchliche Erkenntnisse. In Fällen, in denen Korrelation und Kausalität nicht hieb—und stichfest bestimmt werden können, sind Schlussfolgerungen nach dem Muster „hohe ESG-Scores führen zu engeren Spreads“ oder „Unternehmen mit besserer ESG-Bewertung befinden sich in Ländern mit höherem ESG-Score“ tunlichst zu vermeiden. Vor dem Hintergrund unserer Überzeugung, dass Bonität und Nachhaltigkeit Hand in Hand gehen, folgt der Königsweg zum Einbezug von ESG-Kriterien dem Grundsatz „know the country“—einschliesslich seines politischen Systems, seiner Institutionen, seiner Wirtschaftsstruktur und Wettbewerbsfähigkeit und seiner politisch-kulturellen Rahmenbedingungen. Es geht um mehr als nur um Zahlen—Zahlungsströme und Aktien, Haushaltsdefizite und Verschuldungsquoten. Welche Einflüsse hinter den Zahlen stehen, ist ausschlaggebend.