Herr Rüegg, warum ist nachhaltiges Investieren für Sie wichtig?
Stéphane Rüegg: Ich bin an verschiedenen Stellen mit dem Thema in Berührung gekommen. Ich erinnere mich noch genau, dass ich als Teenager die Rio-Konferenz verfolgte, auf der der brasilianische Indigenen-Häuptling Raoni über den Erhalt des Amazonas-Regenwaldes sprach. Ausserdem interessiere ich mich sehr für Geschichte, und es ist mir aufgefallen, dass viele Schlachten in der Militärgeschichte anders ausgegangenen wären, hätte es damals schon den Klimawandel gegeben. Die Franzosen siegten in Austerlitz, weil der See zugefroren war. Napoleons Kanonen brachten das Eis zum Brechen, sodass Tausende Soldaten ertranken. Heute ist der See ausgetrocknet. Und bei der Schlacht von Teruel während des Spanischen Bürgerkriegs sanken die Temperaturen auf minus 20°C – heute steigen sie im Januar auf 10°C. Ein Auslöser für die französische Revolution war die schlechte Ernte im Jahr 1788, die zu Nahrungsmittelknappheit führte und die Preise in die Höhe trieb. Die Liste liesse sich beliebig fortsetzen. Zudem habe ich in Asien gelebt, und es gibt dort nur sehr wenige Orte, an denen man Leitungswasser trinken kann, ausser vielleicht in Japan und Singapur. Die Menschen trinken aus Plastikflaschen, die nicht recycelt werden. Das alles hat dazu geführt, dass ich mich mit dem Thema Umwelt auseinandergesetzt habe.
Auch innerhalb Europas gibt es deutliche kulturelle Unterschiede, was ESG anbelangt.
Was bewegt die Kundinnen und Kunden?
Rüegg: Noch vor einigen Jahren war Governance der wichtigste ESG-Faktor, der das Investitionsgeschehen beeinflusste. Der Umweltaspekt war nicht ganz so wichtig, was an dem zeitlichen Versatz liegt, den der ehemalige britische Zentralbankchef Mark Carney als „Tragedy of horizon“ bezeichnet: Investmentmanager werden nach ihrem Dreijahres-Trackrecord beurteilt, während die Auswirkungen des Klimawandels erst in den kommenden Jahrzehnten sichtbar werden.
Extreme Wetterereignisse haben uns aber vor Augen geführt, dass wir uns in einem Klimanotstand befinden. Das Thema hat in Europa an Bedeutung gewonnen. Asiatische Investorinnen und Investoren schauen sich diese Entwicklungen an und stellen viele Fragen. Das, worüber sich die Kundinnen und Kunden am meisten Gedanken machen, wird letztendlich durch Regulierung in die richtigen Bahnen gelenkt. In Europa bewegen wir uns auf eine gemeinsame grüne Taxonomie zu, aber es bleibt abzuwarten, was die Investorinnen und Investoren langfristig daraus machen. Es sollte nicht nur darum gehen, eine Schwelle zu durchbrechen, wir brauchen auch Daten, die es ermöglichen, den Fortschritt eines Unternehmens langfristig zu verfolgen.
In Europa werden nach und nach neue Standards eingeführt, aber auch innerhalb der Region gibt es einige klare kulturelle Unterschiede in Sachen ESG. Deutsche Kundinnen und Kunden mögen die Kernenergie nicht, während andere, wie die Franzosen, es für notwendig halten, den Übergang zu sauberer Energie zu vollziehen. In Belgien, wo viele grosse Brauereien ansässig sind, schliesst eine Klassifikation als „grün“ Alkohol nicht aus.
Oft ist das Klimabewusstsein das Ergebnis einer Umweltkatastrophe, wie Fukushima in Japan. In den USA bewirkte die durch BP verursachte Ölpest im Golf von Mexiko ein Umdenken bei den amerikanischen Investorinnen und Investoren. Die zunehmende Häufigkeit von Hurrikans und die Kältewelle in Texas zu Jahresbeginn haben in den USA dazu geführt, dass sich die Menschen verstärkt Gedanken über die Umwelt machen.
Auf welche Risiken sollten sich Anlegerinnen und Anleger in Green Bonds einstellen?
Wenn ich Ihnen sagen würde, stellen Sie sich eine Anleihe mit einem sozialen Ziel vor, die es Menschen mit wenig Geld ermöglicht, in den Immobilienmarkt einzusteigen und sich besser in die Gesellschaft zu integrieren, würden Sie dann investieren? Stellen Sie sich vor, wir schreiben das Jahr 2008 und ich verkaufe Ihnen Subprime-Kredite als Möglichkeit, die Risse in der amerikanischen Gesellschaft zu kitten. Sie müssen also vorsichtig sein, hinter die Fassade schauen und sich nicht von dem grünen Label blenden lassen.
Das ist ein Markt, der sich gerade erst herausbildet, deshalb gibt es einige wichtige Grundsätze zu beachten, die so etwas wie der moralische Kompass sind, der uns im Privaten den Weg weist. Sie müssen das Instrument ebenso analysieren wie den Emittenten und genau nachverfolgen, ob das Unternehmen auch wirklich seine Versprechen hält. Bei Pictet sind wir sehr verwöhnt, weil wir in der Regel bei jedem Aspekt von E, S und G den besten Anbieter haben – am Ende des Tages brauchen Sie die richtigen Daten, um ESG zu verstehen.
Ein pauschaler Ansatz zur Bewertung der ESG-Performance von Unternehmen funktioniert nicht. Entscheidend ist, die Dynamik des jeweiligen Sektors zu verstehen. Das Thema Umwelt ist zum Beispiel für Bergbauunternehmen von zentraler Bedeutung, aber der soziale Aspekt ist genauso wichtig, im Hinblick auf Unfälle und die Zusammenarbeit mit den lokalen Gemeinschaften. Ein Beispiel hierfür ist das Bergbauunternehmen Vale in Brasilien, wo ein verheerender Dammbruch dazu führte, dass das Unternehmen seine Position als weltweit grösster Eisenerzproduzent verlor und den Anstoss zu einer großangelegten Governance- und Sicherheitsüberprüfung gab. Die Art und Weise, wie ein Unternehmen Preise festlegt oder Kunden oder Lieferanten behandelt, ist genauso wichtig wie die Umwelt.
Sind Green ETFs eine bequeme Option für Anleihenanlegerinnen und -anleger?
Green Bond ETFs bilden einfach nur einen Index nach und sind für Investorinnen und Investoren allenfalls eine Möglichkeit, in die Thematik hineinzuschnuppern. Anleihenindexmanager beziehen nur Emittenten ein, die ihre Aufnahmekriterien erfüllen. Je nach Datenverfügbarkeit kann es daher sein, dass Anleihen nach ihrer Emission erst einmal mehrere Monate nicht für eine Aufnahme ins Portfolio in Frage kommen. Und wenn ein Unternehmen nicht ordnungsgemäss Bericht erstattet, kann es Monate dauern, bis die Anleihe aus dem Index ausgeschlossen wird.
Und dann kommt es darauf an, ob Ihnen die Benchmark passt. Wollen Sie Green Bonds von umweltverschmutzenden Unternehmen in Ihrem Portfolio haben? Oder Green Bonds von einem Flughafenbetreiber? Wenn Sie einen ETF kaufen, überlassen Sie diese Entscheidungen dem Indexanbieter. Für uns ist es sehr wichtig, dass wir mit unseren Kundinnen und Kunden über diese Themen sprechen.
Es wäre falsch zu glauben, dass Green Bonds die einzige Möglichkeit sind, sich in Unternehmen mit positivem Impact zu engagieren. Bluttestfirmen oder Unternehmen des Gesundheitssektors emittieren zwar nicht unbedingt Green Bonds, aber ihr Beitrag zur Gesellschaft ist sehr wichtig. Es gibt Unternehmen, die „umweltfreundlich“ sind, aber keine Green Bonds emittieren, wie das US-Wassertechnologieunternehmen, das wir in unserem Bestand haben. Wir haben die Anleihen gekauft, weil wir die Strategie des Unternehmens interessant fanden. Später emittierten sie dann einen Green Bond. Auf der anderen Seite gab es ein Energieunternehmen, das für sein Nachhaltigkeitsprofil warb, dann aber ein Schiefergasunternehmen kaufte, als der US-Energiemarkt zusammenbrach.
Verändert ESG das Aufgabenprofil eines professionellen Investors?
In unserem Team denken wir seit jeher langfristig. Technologischer Wandel und Regulierung sind wichtige Einflussfaktoren für unseren Prozess, da sie neue Risiken und Chancen mit sich bringen und einen Mini-Kreditzyklus in einem Sektor anstossen. Als die ESG-Verordnung kam, waren wir also nicht überrascht.
Ausserdem verfolgen wir schon immer einen sehr fundamentalen Investmentansatz und stellen uns Fragen wie: „Warum führt das Unternehmen diese Übernahme durch? Warum ändert es sein Geschäftsmodell und führt neue Produkte ein? Macht das Sinn?“ Vielleicht sind wir ab und an opportunistisch, aber unser Ansatz ist der, dass wir einem Unternehmen Geld leihen; wir sind keine Händler.
Wir sprechen auch mit den Unternehmen über unsere Bedenken. Bei den Gesprächen mit der Geschäftsleitung können wir sie herausfordern, man braucht nicht unbedingt definierte Verpflichtungen. Letztendlich ist die Governance sehr wichtig. Man kann einem Unternehmen bei seinen Umweltverpflichtungen nicht vertrauen, wenn es keine verantwortungsvolle Unternehmensführung hat.
Es wäre falsch zu glauben, dass Green Bonds die einzige Möglichkeit sind, sich in Unternehmen mit positivem Impact zu engagieren.
Ist die neue Generation ESG-bewusster?
Ich finde nicht, dass die Millennials mehr von ESG halten als andere. Jede Generation hat ihre eigenen Themen und ihre Schwachstellen. In der Zeit meiner Grosseltern hat niemand über die schädliche Wirkung von Tabak gesprochen. Die jungen Menschen von heute verstehen den Zusammenhang zwischen ihren Streaming-Gewohnheiten und dem exponentiellen Wachstum der CO2-Emissionen nicht. Unsere Vorfahren haben Wasser gespart, alle Reste wurden verwertet. Wir leben heute in einer Gesellschaft, die viel verschwenderischer ist. Meine Kinder recyceln nicht. Sie machen sich über vieles Gedanken, aber sie haben auch ihre Schwachstellen, wie alle Generationen!
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Rüegg!