Revolutionäre neue Behandlungen von Krebs oder genetischen Erkrankungen machen Schlagzeilen. Da jedoch die Kosten für die Behandlung chronischer und vermeidbarer Krankheiten sowohl in Industrie- als auch in Schwellenländern stark steigen, braucht der Gesundheitssektor einen neuen Ansatz, der die vielfältigen Einflüsse auf die menschliche Gesundheit berücksichtigt – einschließlich der Sozialpolitik und der Aktivitäten kommerzieller Unternehmen.
Es kann gar nicht oft genug betont werden, dass sauberes Wasser, bessere sanitäre Einrichtungen, hochwertige Bildung und stabile Beschäftigung insgesamt mehr als irgendeine moderne Gesundheitstechnologie dazu beitragen, die globale Sterblichkeit zu senken und die Lebenserwartung zu erhöhen. Allein der Mangel an sicherem Wasser ist weltweit für 1,2 Millionen vorzeitige Todesfälle verantwortlich.1
Diese sozialen Dimensionen betreffen nicht nur Entwicklungsländer, in denen kritische Infrastruktur fehlt.
Selbst in den reichsten Ländern können Gruppen von Menschen, die nur wenige Kilometer voneinander entfernt leben, eine ganz unterschiedliche Lebenserwartung haben, obwohl sie theoretisch Zugang zu den gleichen grundlegenden sozialen, Gesundheits- und Bildungsleistungen haben.
In Glasgow, Schottland, zum Beispiel gibt es zwei Stadtviertel, zwischen denen die Lücke der Lebenserwartung bei 17,6 liegt. Das entspricht im Großen und Ganzen der Lücke zwischen den ärmsten und reichsten Dezilen der Stadt.2
Für diese Probleme gibt es keine schnelle Lösung. Es ist ein ganzheitlicher Ansatz für die Gesundheitsversorgung nötig, der die verschiedenen beeinflussenden Faktoren für die Gesundheit berücksichtigt. Dabei steht Prävention ganz oben.
Gesundheit als soziales Phänomen
Spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts sind sich die Politiker des komplexen Zusammenspiels von sozialen Faktoren und Gesundheit bewusst. Bekannt wurde dies vor allem durch den deutschen Arzt Rudolf Virchow, der für einen Typhus-Ausbruch in Schlesien im Jahr 1848 die schlechten Lebensbedingungen als Ursache verantwortlich machte.
Generell haben Untersuchungen gezeigt, dass „ein höheres Verhältnis von Sozialausgaben zu Gesundheitsausgaben zu einer verbesserten Gesundheit der Bevölkerung führt“, so die Massachusetts Medical Society in einem Bericht aus dem Jahr 2017. Und die Weltgesundheitsorganisation gibt drei allgemeine Empfehlungen zur Verbesserung der Gesundheitslage: Verbesserung der Bedingungen des täglichen Lebens, Bekämpfung der ungleichen Verteilung von Macht, Geld und Ressourcen sowie Messung und Verständnis des Problems und Bewertung der Wirkung von Maßnahmen.3
All das macht deutlich, wie schwierig es ist, Gesundheit und Wohlbefinden auf globaler Ebene zu verbessern. Die Beseitigung ungesunder Umweltbedingungen zum Beispiel erfordert häufig das Zusammenspiel von Finanzwesen, Stadtplanung, Landwirtschaft, Industrie und Verkehr.
Und gegen schlechte Ernährung können nur Bildung, Finanzwesen, Landwirtschaft und Industrie gemeinsam etwas ausrichten. Angesichts dessen, dass 20 Prozent der Menschen – die kränksten und am stärksten benachteiligten Menschen – 80 Prozent der Gesundheitskosten verursachen, sind die Vorteile gut strukturierter Sozialprogramme beträchtlich.
Gerechte Kostenverteilung
Ein multidimensionaler Ansatz im Gesundheitswesen erfordert auch ein Verständnis dafür, wie sich kommerzielle Aktivitäten auf unsere Gesundheit auswirken. Diese können positiv oder negativ sein.
Beispielsweise sollen Unternehmen, die schädliche Produkte wie Tabak, Alkohol, ultraverarbeitete Lebensmittel und fossile Brennstoffe herstellen und verkaufen, weltweit für schätzungsweise mindestens ein Drittel der vermeidbaren Todesfälle pro Jahr verantwortlich sein. Und für die Kosten dieser Schäden müssen die Regierungen und Verbraucher aufkommen, wie zum Beispiel für medizinische Leistungen, die Beseitigung von Ölverschmutzung oder die Entsorgung von Industrieabfällen.4 Aufgrund dieser sogenannten externen Effekte werden viele dieser Produkte zu künstlich niedrigen Preisen im Verhältnis zu den tatsächlichen Kosten – von Betriebsmitteln sowie soziale und wirtschaftliche Kosten, die andere tragen – verkauft, was zu einem stärkeren Konsum und höheren Gewinnen für diese Branchen führt.
„Das bedeutet, je mehr Schaden kommerzielle Akteure verursachen, desto mehr steigern sie ihre Gewinne, ihren Wohlstand und ihre Macht. Gleichzeitig haben Privatpersonen, Gemeinden und Regierungen, die für diese Kosten aufkommen müssen, weniger Ressourcen und Macht, was es schwieriger macht, kommerzielle Akteure zur Rechenschaft zu ziehen“, heißt es in einem kürzlich veröffentlichen Lancet-Bericht über diese kommerziellen Determinanten von Gesundheit.
Kein Unternehmen, egal welcher Branche, wird umhin kommen, Verantwortung für diese externen Effekte zu übernehmen – nicht nur gegenüber seinen Kunden, sondern auch gegenüber seinen Aktionären und Aufsichtsbehörden.
Neue Ansätze in der Prävention
Gleichzeitig leistet der private Sektor aber auch einen unschätzbaren Beitrag zu unserem Wohlergehen. Dank unternehmerischem Engagement und Investitionen haben die Verbraucher Zugang zu einem ständig wachsenden Angebot an Waren und Dienstleistungen, die für ein gesundes Leben nötig sind, z. B. nahrhafte Lebensmittel, hochwertige Gesundheitsversorgung, Medizin und Wohnraum.
In einigen Fällen würden viele schwere Krankheiten ohne Beteiligung des Privatsektors unbehandelt bleiben.
Nehmen wir als Beispiel die Fettleibigkeit. Ein übermäßig hohes Körpergewicht kann zu Diabetes, Herzerkrankungen und höheren Krebsraten führen. Das ist ein ernstes globales Problem. Regierungen und Gesundheitsbehörden haben es mit verschiedenen Maßnahmen versucht. Etwa mit Bildung und Stadtplanung zur Förderung körperlicher Aktivität. Man hat auch versucht, Anreize für die Landwirtschaft und Industrie zu schaffen, damit gesündere Lebensmittel produziert werden. Diese Maßnahmen haben jedoch wenig dazu beigetragen, den allgemeinen Trend zu Übergewicht zu verlangsamen.
Deshalb setzen die Gesundheitsbehörden auf die neue Generation von Medikamenten zur Gewichtsreduktion. Diese haben sich als viel wirksamer erwiesen als Diäten und andere herkömmliche Ansätze und helfen den Menschen, Gewicht zu verlieren und es zu halten, indem sie ihren Appetit kontrollieren. Die Frage, die sich die Politik stellt, ist nun, inwieweit sie bereit ist, die Kosten für Medikamente zu übernehmen, die so lange eingenommen werden müssen, bis der Gewichtsverlust nachhaltig ist – denn wenn die Arzneimittel nicht mehr eingenommen werden, kehrt der Appetit zurück und die Betroffenen nehmen wieder zu. Eine weitere wichtige Überlegung für diejenigen, die für die Medikamente aufkommen sollen, ist, wie groß der kardiovaskuläre Nutzen der Arzneimittel sein könnte. Analysen dazu dürften noch in diesem Jahr veröffentlicht werden. Und dann wäre da noch die Sache mit den unerwünschten Nebenwirkungen. Die Medikamente sind jedoch so wirksam, dass das britische Gesundheitssystem NHS von ihnen sehr angetan ist.
Eine Schwierigkeit bei einem mehrdimensionalen Ansatz für eine präventive Gesundheitsversorgung besteht darin, die richtigen Arbeitskräfte zu finden. In vielen Krankenhäusern gibt es einen Engpass nicht mehr bei Hightech-Geräten, sondern bei den Menschen, die sie bedienen. Krankenhausverwaltungen haben Probleme, genug Pflege- und Funktionspersonal zu finden, um die Nachfrage zu decken. Bei der häuslichen Pflege sieht es noch schlimmer aus – was die Krankenhäuser noch stärker belasten dürfte, wenn gefährdete Menschen zu Hause nicht überwacht werden können und dann zum medizinischen Notfall werden. Eine Lösung ist die Fernüberwachung durch Telekonferenzsysteme. Eine Pflegekraft, die morgens sonst vielleicht nur zwei oder drei Patienten aufsuchen kann, kann dadurch ein Dutzend Patienten überwachen. Ältere Patienten müssen häufig viele Medikamente einnehmen – es kann eine Herausforderung sein sicherzustellen, dass sie die richtigen Arzneimittel in der richtigen Reihenfolge einnehmen. Die Fernüberwachung und telemedizinische Betreuung durch Ärzte und Pfleger per Video können hier helfen.
Es ist erwiesen, dass Prävention extrem wirksam ist und insgesamt die Lebenserwartung und die Lebensqualität viel mehr verbessern kann als medizinische Maßnahmen. Aber damit ist auch eine hohe Komplexität verbunden. Verschiedene Bereiche der Gesellschaft müssen koordiniert zusammenarbeiten, um die besten Ergebnisse zu erzielen. Und mitunter müssen sie durch Technologie unterstützt werden.
Dieser Artikel basiert auf Diskussionen des Pictet Health Thematic Advisory Board
Einblicke für Investoren
- Da es nicht die eine Lösung gibt, sind globale Gesundheitsexperten daran interessiert, komplexe und vielfältige kommerzielle Aktivitäten zu kanalisieren, um gesundheitliche Schäden zu reduzieren, den Nutzen zu erhöhen und den Bedarf an regulatorischen Maßnahmen zu bestimmen. Für Investoren könnte dieser Ansatz eine Vorlage sein, wie sie in Zukunft öffentliche und individuelle gesundheitliche Erwägungen berücksichtigen sollten.
- Durch die globale Erwärmung wird Prävention nur noch wichtiger. Ein einziger Tag über 32 Grad Celsius erhöht die Sterblichkeit um mehr als 1 Prozent. Hitzewellen sind tödlich und werden wohl immer häufiger auftreten. Die französische Gesundheitsbehörde schätzt zum Beispiel, dass es bei der Hitzewelle 2003 in Europa fast 15.000 hitzebedingte Todesfälle gab. Auch in Spanien und Italien herrschte eine hohe hitzebedingte Sterblichkeit. Der beste Weg ist Prävention. Langfristig bedeutet dies, dass die Welt mehr über die Begrenzung und Abschwächung des Klimawandels durch Reduzierung der Treibhausgasemissionen tun muss. Kurzfristig sind dafür lokale Maßnahmen erforderlich, um eine bessere Überwachung gefährdeter Menschen bei Hitzewellen (und Kälteeinbrüchen) zu gewährleisten und Mittel zur Kühlung bereitzustellen.
- Fettleibigkeit war 2019 weltweit für 5 Millionen Todesfälle verantwortlich. Die Adipositas-Raten sind dramatisch gestiegen. 1975 wurden 11,7 Prozent der Amerikaner, 9,9 Prozent der Deutschen und 0,4 Prozent der Chinesen als fettleibig eingestuft. 2016 lagen diese Prozentsätze bereits bei 37,3%, 25,7% bzw. 6,6%. Quelle: https://ourworldindata.org/obesity
1 Globale Krankheitslast. Daten aus 2017. Quelle: Our World in Data https://ourworldindata.org/water-access
2 https://www.bbc.co.uk/news/uk-scotland-glasgow-west-58118599
3 https://www.who.int/initiatives/action-on-the-social-determinants-of-health-for-advancing-equity/world-report-on-social-determinants-of-health-equity/commission-on-social-determinants-of-health
4 Lancet-Serie zu den kommerziellen Determinanten von Gesundheit, 23.05.2023
5 https://www.thelancet.com/series/commercial-determinants-health