Inzwischen allerdings ist Enigma längst ein Fall fürs Museum – oder allenfalls für eindrucksvolle Demonstrationen des technischen Fortschritts. „Gerade erst hat ein Experiment im Londoner Imperial War Museum eindrucksvoll gezeigt, dass inzwischen selbst ein simpler Algorithmus kurzen Prozess mit Enigma macht“, berichtet Michael Kollo, Chief Quantitative Strategist bei AXA IM Rosenberg Equities. „In dem Experiment wurde Enigma in weniger als 14 Minuten geknackt – vor allem aufgrund der Anwendung von Parallelrechnern.“ Dabei wurden 1.000 Server genutzt, um 13 Millionen Passwortkombinationen pro Sekunde zu testen. Hinzu kam ein einfacher Spracherkennungsalgorithmus, der prüfte, ob die so produzierten Ergebnisse auch tatsächlich deutsche Wörter waren. Insgesamt wurden bei dem Experiment 15,4 Milliarden Kombinationen getestet. Kosten des gesamten Vorgangs: 7 US-Dollar für die Miete der Server. „Es war keine künstliche Intelligenz im Spiel, keine anspruchsvolle Mustererkennung“, erklärt Kollo. „Das Experiment war einfach eine eindrucksvolle Demonstration der Macht von Brute Force, also roher Rechenpower.“
Brute Force kann heute viele Probleme noch nicht lösen
Bei der Brute-Force-Suche geht es darum, möglichst viele Pfade zur Lösung eines Problems binnen möglichst kurzer Zeit zu durchsuchen. Dazu ist lediglich viel Rechenpower nötig. „Erläutern lässt sich das am besten mit einer Analogie“, so Kollo. „Wenn es darum ginge zu lernen, wie man ein Flugzeug fliegt, würde ein selbstlernender Algorithmus versuchen, die Unterschiede zwischen den Schaltern und Kontrollinstrumenten zu erkennen, sie ein- und ausschalten und dabei ständig probieren, ein System zu finden, das es ermöglicht, das Flugzeug zu steuern.“ Ein Brute-Force-Algorithmus dagegen verhielte sich weniger elegant. „Er würde jede einzelne Einstellung jedes einzelnen Kontrollinstruments mit jeder Einstellung aller anderen Kontrollinstrumente kombinieren, bis das Flugzeug irgendwann tatsächlich abhebt.“ Dieses Verfahren allerdings funktioniert nur, wenn genügend Rechenleistung zur Verfügung steht – und das ist bei vielen Anwendungen heute noch nicht der Fall. So kann Brute Force aktuell nicht einmal menschliche Spieler beim Brettspiel Go schlagen, weil es dort zu viele verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten gibt.
Quantencomputer in Sicht
Das allerdings könnte sich Kollo zufolge bald ändern: „Die Rechengeschwindigkeit wird einen starken Schub erhalten, denn am Horizont sind bereits die ersten Quantencomputer zu sehen. Sowohl IBM als auch Intel haben angekündigt, dass sie über funktionierende 49- und 50 Quantenbit-Prozessoren verfügen, und auch Google arbeitet an einem Quantencomputer.“ Zwar befänden sich die Quantenrechner noch in einer frühen Phase ihrer Entwicklung, dennoch werde allgemein erwartet, dass ihre Rechengeschwindigkeit die Leistung konventioneller Computer bei Weitem übersteigen kann. „Quantencomputer versprechen sozusagen, Maschinen-Hulks zu werden, um das Phänomen in Superhelden-Terminologie zu verpacken“, erläutert Kollo.
Dieser Maschinen-Hulk dürfte auch Auswirkungen auf die Zukunft der künstlichen Intelligenz haben. Aktuell herrschen in diesem Bereich Ansätze vor, die zwar flexibel sind, aber dennoch versuchen, die von ihnen zu lösenden Probleme mithilfe von Modellen zu verstehen. „Das gilt sowohl für überwachte neuronale Netzwerke als auch für unüberwachte Ansätze des maschinellen Lernens. Quantenrechner werden, wenn sie einmal da sind, aber in der Lage sein, Türen einfach einzutreten, die bisher mithilfe eleganter Algorithmen auf komplizierte Weise geöffnet werden mussten“, so Kollo. „Diese Art der modellfreien Anwendung von Rechenleistung dürfte große Auswirkungen haben und wird künftig noch wichtiger. Egal wie vielversprechend künstliche Intelligenz, neuronale Netze und maschinelles Lernen sein mögen – eine Konstante bleibt, dass die Rechenleistung ständig zunimmt und Probleme, die einmal kompliziert schienen, plötzlich ganz einfach zu lösen sind.“ Genau wie die Entschlüsselung von Enigma.