Welche Rolle spielt der Finanzsektor, um die Ziele des Pariser Abkommens und der 2030-Agenda für nachhaltige Entwicklung zu erreichen?
Christian Thimann: Der Finanzsektor spielt eine sehr wichtige Rolle. Wenn alle Länder die Klima- und Nachhaltigkeitsziele erreichen wollen, wird man in den nächsten zwanzig Jahren völlig anders investieren müssen. Man wird sich von der Kohle weitgehend verabschieden und weniger auf Öl und Gas setzen. Stattdessen wird viel mehr in Energieeffizienz, erneuerbare Energien und damit verbundene Technologien investiert. Aufgrund der Herausforderungen der internationalen Finanzkrise und der anschließenden Staatsschuldenkrise ist ein nachhaltiger Finanzsektor vielleicht die beste Möglichkeit, für Wohlstand zu sorgen – und für ein Wirtschaftswachstum, das der Umwelt möglichst wenig schadet.
Der Finanzsektor ist in fast allen Lebensbereichen präsent – von Produktionsprozessen und Dienstleistungen über Verpackung und Transport bis zum Konsum. In allen Phasen eines Konjunkturzyklus sind Kapital und Investitionen nötig. Zudem müssen Kapitalströme gesteuert werden. Deshalb wurden Finanzdienstleistungen in das Abkommen aufgenommen. Kapitalströme müssen umgeleitet werden. Banken, die noch keinen Beitrag zu einer nachhaltigeren Projekt- und Spezialfinanzierung geleistet haben, sollten das nachholen. Das gilt auch für Versicherer und Pensionskassen: Auch sie könnten mehr langfristige Eigenkapitalanlagen und Infrastrukturinvestments tätigen, wenn die Regulierungen dies zulassen würden.
Asset Manager können dafür sorgen, dass mehr Kapital in nachhaltige Investments fließt. Beispielsweise kann man Nachhaltigkeit in Stewardship Codes und Assetmanagement-Vereinbarungen aufnehmen. Außerdem kann man Fondsmanager zu mehr Transparenz anhalten. Man kann sie auffordern, zu berichten, wie sie ökologische, soziale und governancebezogene Faktoren, die sogenannten ESG-Faktoren, in ihre Strategien integrieren und wie sie zu ESG-Themen abstimmen. AXA IM ist hier bereits sehr weit.
Welche Änderungen des Finanzsystems werden nötig sein, um diese Ziele zu erreichen?
Christian Thimann: Zweifellos sind große Veränderungen und hohe Investitionen nötig. Nach EU-Schätzungen könnte ihre Umsetzung bis zu 170 Milliarden Euro jährlich kosten, beispielsweise für die Weiterentwicklung erneuerbarer Energien, die Investition in lokale Produktion von Gütern statt weltweiter Transport von Zwischenprodukten und Fertiggütern oder die Energieeffizienz und grüner Gebäude. Das ist viel Geld. Der hohe finanzielle Einsatz wird Finanzunternehmen für Nachhaltigkeitsrisiken und -chancen sensibilisieren. Dieses Thema wurde von der Branche insgesamt bislang recht wenig beachtet. Mittlerweile ist aber ein Gesinnungswandel zu beobachten. Um eine grundsätzliche Veränderung zu bewirken, müssen ESG-Faktoren bei der Corporate Governance sowie in wichtigen Indizes, Rechnungslegungsstandards und Bonitätsratings berücksichtigt werden. Ihre Relevanz muss sich auch in der Rolle der europäischen Aufsichtsbehörden zeigen, etwa durch gemeinsame Richtlinien und einheitliche aufsichtsrechtliche Ansätze zu mehr ESG-Transparenz.
Viele Teile des Finanzsystems sind heute sehr kurzfristig orientiert, und kurzfristige Wertschöpfung wird zu stark betont. Das gilt für Eigenkapitalinstrumente, die prinzipiell auf eine längere Haltedauer ausgelegt sind. Vor zwei Jahrzehnten wurden Aktien durchschnittlich acht Jahre gehalten, heute nur noch acht Monate; da es aber weiterhin langfristige Investoren gibt, zeigt dies, dass der Sektor, der Aktien extrem kurzfristig hält, also etwa der Hochfrequenzhandel oder der Hedgefonds-Sektor stark angestiegen ist. Bei einem so kurzen Anlagehorizont kann man keine langfristigen Aspekte berücksichtigen. Langfristinvestoren interessieren sich zunehmend für nachhaltige Anlagemöglichkeiten, da es teuer werden könnte, sie zu meiden. Für langfristige Anlageentscheidungen sind die Kosten von Stranded Assets und Hochrisikosektoren wie Kohle sehr wichtig. Die AXA Group ist ein Vorreiter beim Ausstieg aus solchen Stranded Assets, die dem Klima sehr schaden. Wir sind davon überzeugt, dass bestimmte Anlagen veräußert werden müssen, wenn wir die Weltwirtschaft dekarbonisieren und die Erderwärmung auf 2 Grad beschränken wollen.
Der Zwischenbericht der HLEG gab Empfehlungen zu einer schnelleren Dekarbonisierung. Wie können Investoren davon profitieren?
Christian Thimann: Die HLEG ist sehr aktiv. Beispielsweise entwickelt sie ein System, um zu definieren, welche Anlagen als grün gelten und welche nicht. Daraus können ein europäischer Standard und ein Gütesiegel für grüne Fonds und andere nachhaltige Assets werden. Außerdem wollen wir erreichen, dass die Treuhandpflicht des Investors auch Nachhaltigkeitsthemen einschließt. Wir wollen ein Klassifikationssystem für nachhaltige Assets anstoßen und Finanzinstitute und -unternehmen anhalten, transparenter über Nachhaltigkeitsentscheidungen zu informieren. Auch einen „Nachhaltigkeitstest“ für die EU-Finanzregulierung und eine Initiative für „nachhaltige Infrastruktur in Europa“ wollen wir anregen, um die Finanzierung nachhaltiger Projekte zu fördern. Außerdem möchten wir die Rolle europäischer Aufsichtsbehörden bei der Beurteilung von ESG-Risiken stärken und durch geeignete Rechnungslegungsvorschriften Energieeffizienzinvestitionen fördern.
Im Idealfall sollten diese Entwicklungen dazu führen, dass sich Finanzdienstleister verpflichten, ESG- und Klimafragen bei ihren Anlageentscheidungen zu berücksichtigen. Langfristig wird sich das sehr positiv auf das Finanzsystem auswirken. Asset-Manager werden ihre Kompetenzen in diesen Bereichen ausbauen müssen, um für ihre Kunden besser informierte Entscheidungen treffen zu können. Sie müssen sich beispielsweise fragen, welche Folgen Investitionen in Kohle und eine besonders umweltschädliche Ölförderung haben.