Die jüngste Nachrichtenlage an der Pandemiefront ist besorgniserregend. Solange die Unsicherheit im Zusammenhang mit der Pandemie nicht schwindet, bleibt die Entschlossenheit der politischen Entscheidungsträger, so lange wie nötig Konjunkturimpulse zu geben, entscheidend. Selbst in Großbritannien, wo die Impfrate der Bevölkerung hoch ist, kommt es erneut zu Belastungen in Teilen des Gesundheitssystems, da sich die Delta-Variante weiterhin sehr schnell ausbreitet. In Portugal, Teilen Spaniens und den Niederlanden sind einige Corona-Restriktionen wieder in Kraft, auch wenn wir noch sehr weit von dem strengen Ausmaß entfernt sind, das noch vor 2 Monaten zu beobachten war.
Die gute Nachricht ist indes: Impfstoffe machen einen großen Unterschied bei der Eindämmung der Anzahl schwerer Fälle. Dennoch dürfte selbst in Großbritannien die Durchimpfungsrate der Bevölkerung zu gering sein, um den Druck der Pandemie auf das Gesundheitswesen vollständig zu beseitigen. Die britische Regierung will aber mit der Aufhebung der meisten verbleibenden Einschränkungen in der nächsten Woche wie geplant fortfahren. Dieses Vorgehen kann als "Glücksspiel" betrachtet werden. All dies stellt ein Abwärtsrisiko für die Entwicklung des BIP im 3. Quartal dar - auch wenn Extremszenarien wie eine Rückkehr zum vollständigen Lockdown zum jetzigen Zeitpunkt weit hergeholt erscheinen.
Strategieanpassung in der Geldpolitik
Wie allgemein erwartet, ging die EZB letzte Woche zu einer symmetrischen Definition von Preisstabilität über: 2% auf mittlere Sicht, wobei Abweichungen darüber und darunter "gleichermaßen unerwünscht" sind. Ein Überschießen der Inflation wird nun ausdrücklich gebilligt. Damit stimmt die offizielle Haltung der EZB mit dem überein, was Mario Draghi in den letzten 2 Jahren seiner Amtszeit wiederholt gesagt hatte.
Obwohl "Inflation Overshooting" nun auch auf europäischer Seite explizit in Erwägung gezogen wird, bleibt eine signifikante "strategische Lücke" zwischen den beiden Zentralbanken bestehen. Der Wechsel zu einem symmetrischen Ansatz, der nun im politischen Regelwerk der EZB verankert ist, hat eine ganz andere Form als in den USA. Laut der Erklärung der EZB von letzter Woche kann eine Situation, in der die Leitzinsen nahe der Untergrenze liegen, "auch eine vorübergehende Periode implizieren, in der die Inflation moderat über dem Zielwert liegt". Dies ist weniger eindringlich als die Sprache der Fed, in der ein Überschießen in Anbetracht der vergangenen unterdurchschnittlichen Inflation ausdrücklich das Ziel der Geldpolitik ist. In Anbetracht der bisherigen Entwicklung und des aktuellen Konjunkturgefälles zwischen den USA und dem Euroraum ist es die EZB, die die größte Glaubwürdigkeitslast beim Erreichen einer Inflationsrate von 2 % zu tragen hat. Allerdings ist sie auch am wenigsten durchsetzungsfähig, wenn es um ein Überschießen geht.
Preisen Märkte Corona-Herbst schon ein?
Die Sorgen über das Tempo der Wiedereröffnung der Weltwirtschaft fanden letzte Woche ihren Weg zum Aktienmarkt, aber es gibt noch keine feste Richtung. Der S&P beendete die Woche noch leicht im Plus. Das Wiederaufleben der Covid-bedingten Unsicherheit könnte einen Teil des jüngsten Rückgangs der US-Renditen erklären, der auf die übliche Suche nach einem sicheren Hafen folgte, aber die Korrektur des Anleihenmarktes begann, bevor die Sorgen mit der Delta-Variante aufkamen. Die Änderung im "Dot Plot" des FOMC wurde gebührend berücksichtigt und die Anleger zogen die erste Zinserhöhung seit Juni um einige Monate vor - sie wird nun für Februar 2023 erwartet. Der jüngste Rückfall der langfristigen US-Renditen, die in der vergangenen Woche weitere 7 Basispunkte verloren und trotz einer späten Erholung am Freitag 1,35 % erreichten, scheint nicht den Glauben an eine längerfristig versöhnlichere Fed widerzuspiegeln.
Gilles Moëc, Group Chief Economist bei AXA Investment Managers