Viel fehlt nicht, und die Investoren erwarten für 2024 überhaupt keine Zinssenkungen mehr. Das scheint ein wenig übertrieben. In Europa und Großbritannien dürfte die Teuerung weiter fallen. In den USA haben die starren Preise mancher Dienstleistungen den Rückgang zwar gebremst, aber die für die Fed so wichtige PCE-Kerninflation bewegt sich anders als die Verbraucherpreisinflation wohl in die richtige Richtung. Langfristige Staatsanleihen aus den USA und anderen Ländern scheinen nicht besonders attraktiv – und dabei dürfte es bleiben, solange die Zinsen nicht gesenkt werden. Bis dahin sind Unternehmensanleihen vielversprechender, vor allem wegen ihrer höheren Renditen. Kurzläufer und Spreadprodukte bleiben für Anleiheninvestoren am interessantesten.
Ein oder zwei, aber nicht sechs: Kurzfristig scheinen Anleihen ein wenig überverkauft. Seit Dezember ist die US-Zehnjahresrendite um 80 Basispunkte gestiegen, und an anderen Staatsanleihenmärkten sah es ähnlich aus. Höhere Langfristrenditen können verschiedene Gründe haben: eine Neueinschätzung der Geldpolitik, Konjunkturdaten und weltpolitische Entwicklungen. Besonders interessant sind dieses Jahr die Erwartungen zur Geldpolitik. Die Leitzinsprognosen für Ende 2024 haben sich drastisch verändert – am extremsten in den USA, wo man zu Jahresbeginn noch 3,65 Prozent erwartete und jetzt von knapp 4,90 Prozent ausgeht. Zuerst rechnete man also mit sechs Zinssenkungen und jetzt mit weniger als zwei. Im Euroraum sind die Erwartungen für das Jahresende von 2,0 auf 3,10 Prozent gestiegen (drei statt sieben Senkungen) und in Großbritannien von 3,50 auf 4,70 Prozent (knapp zwei statt sieben). Da überrascht es nicht, dass man mit Anleihen seit Jahresbeginn verloren hat.
Sehr kurzfristige Anleihenprognosen sind schwierig. Wenn die Lage im Nahen Osten eskaliert, könnte das die Märkte weltweit treffen. Steigende Ölpreise hätten Folgen für den Inflations- und Wachstumsausblick, und der Krieg in der Ukraine dauert an. Vielleicht werden die Anleger risikoscheuer und schichten von risikoreicheren Titeln in die klassischen sicheren Häfen um. Aber das ist schwer vorherzusagen, sodass man sich darauf nicht gut vorbereiten kann. Einstweilen muss man Fundamentaldaten und Geldpolitik jedenfalls genau im Blick behalten.
Wissen die Notenbanken, was sie tun? Angesichts der neuen Leitzinserwartungen muss man sich fragen, was sich außer der Weltlage noch geändert hat. Manche Beobachter halten es für einen Fehler, dass die Notenbanken für dieses Jahr rasche Zinssenkungen in Aussicht gestellt hatten, obwohl die Inflation noch immer über dem Zielwert liegt. Sie hätten wissen sollen, dass der neutrale Zins sehr viel höher ist als bislang angenommen. Die Geldpolitik, so das Argument, sei daher viel zu lasch gewesen, und eine Lockerung sei ein Fehler. Seit Ende letzten Jahres sind die Notenbanken dann zurückgerudert, aber das hat natürlich auch etwas mit den Daten zu tun. In manchen Ländern mag der Inflationsrückgang stocken. Im März sind die amerikanischen Verbraucherpreise um 3,5 Prozent z.Vj. gestiegen, nach 3,1 Prozent im Januar, und die Kernrate scheint bei etwa 4,0 Prozent festgenagelt. Viele Daten legen nahe, dass die Fed warten sollte. Aber Datengebundenheit bedeutet Unsicherheit, und Unsicherheit führt zu höheren Risikoprämien und damit zu steigenden Kreditzinsen.
Noch vor der Fed? In Europa ist die Inflation weiter gefallen, auf 2,4 Prozent z.Vj. im März gegenüber 6,9 Prozent im März 2023. Die britische Inflation betrug im März 3,2 Prozent z.Vj., nach 3,4 Prozent im Februar. Aufgrund von Basiseffekten durch die Regulierung des britischen Energiemarktes dürfte sie im April deutlich zurückgehen. Wir wissen nicht genau, ob die Konjunktur in Europa anzieht – aber die Inflation scheint wirklich zu fallen. Deshalb hört man immer öfter, dass die EZB oder die Bank of England, wenn nicht beide, ihre Zinsen früher senken als die Fed. Für den Euroraum erwartet man am Markt einen Zinsschritt um 25 Basispunkte im Juni oder Juli, für Großbritannien spätestens bis September. Ich würde mich nicht wundern, wenn beide Notenbanken schon im Juni die Zinsen senken. Daher halte ich britische Staatsanleihen für attraktiv. Noch interessanter sind aber kurz laufende sterlingdenominierte Unternehmensanleihen mit einer Yield to Worst von zurzeit 5,7 Prozentbei Laufzeiten von ein bis drei Jahren. Ihre Rendite liegt über dem Geldmarktsatz, und wenn die Bank of England ihre Zinsen senkt, sind sogar kleinere Kursgewinne möglich.
Sprechen Sie nicht von höheren Zinsen: Auffällig ist, wer sich noch nicht zu möglichen Zinserhöhungen geäußert hat: die Fed selbst. Notenbankchef Jerome Powell versuchte auf der IWF-Frühjahrstagung in Washington zwar Zinssenkungsfantasien zu zerstreuen und begründete das mit dem stockenden Inflationsrückgang in den USA. Offizielle Äußerungen der Fed, in denen statt von Senkungen von unveränderten Leitzinsen oder gar von Erhöhungen die Rede ist, sind aber Fehlanzeige. Dennoch bezweifeln viele Anleger, dass die Fed die Inflation wirklich eindämmen kann – und fragen sich, was sie dann wohl tut.
Am Markt misst man die Inflation vor allem am Verbraucherpreisindex. Dabei gibt es aber eine Reihe methodischer Probleme, sodass der Index wesentlich stärker aus-schlagen kann als die tatsächliche Teuerung.
Oft wird auch vergessen, dass für die Fed vor allem der PCE-Kernindex zählt. Er ist im Februar um 2,8 Prozent z.Vj. gestiegen, volle 200 Basispunkte weniger als im Februar 2023. Demnach liegt die Federal Funds Rate um 245 Basispunkte über der Inflation (aber nur um 145 Basispunkte, wenn man den Kern-Verbraucherpreisindex zu-grunde legt). Sicher, die PCE-Kerninflation liegt nach wie vor über ihrem Zielwert, und die Fed möchte, dass sie fällt. Eine einfache Projektion auf Basis der bisherigen Monatswerte lässt vermuten, dass sie bis zum Jahresende noch gut 2,0 Prozent z.Vj. beträgt, nach durchschnittlich 1,6 Prozent von 2010 bis 2020. Wichtig scheint mir aber zu sein, dass die PCE-Kerninflation noch immer abnimmt, während sich die Verbraucherpreisinflation kaum noch ändert.
Noch hartnäckiger? Im Negativszenario für US-Anleihen erhöht die Fed nicht nur den Leitzins, sondern auch ihre Schätzung für den langfristigen neutralen Zins. Angenommen, er beträgt 3,5 bis 4,0 Prozent, und die Zinsstrukturkurve hat wieder eine positive Steigung, sodass die Zehnjahresrendite zwischen 5,0 und 5,5 Prozentliegt. Das könnte etwa bei einer hartnäckigeren Inflation und einer höheren Laufzeitprämie der Fall sein, weil die amerikanischen Staatsfinanzen Sorgen machen. Das ist zwar nicht unsere Prognose, aber ein Szenario, das Anleger bedenken sollten. Seit der internationalen Finanzkrise liegen die US-Staatsanleihenrenditen unter 5 Prozent. In dieser Zeit hat die Fed massiv Anleihen gekauft. Und dann kam Corona, was die Welt-wirtschaft mehrere Quartale lang nahezu stillstehen ließ. Ich will damit sagen, dass eine Zehnjahresrendite von 5 bis 6 Prozent keineswegs ungewöhnlich für eine Wirtschaft ist, die langfristig um nominal 5 bis 7 Prozent wächst.
Wieder im Plus? Doch auch wenn es besser kommt, Inflation und Wachstum also fallen und die Fed die Zinsen deutlich senkt, ist der Ausblick für lang laufende US-Staatsanleihen bestenfalls mittelmäßig. Diese Woche habe ich ein bisschen gerechnet. Wenn die Renditen von US-Staatsanleihen unverändert bleiben und man daher vor allem an den Coupons verdient, wären die Verluste seit dem Indexmaximum im September 2020 erst Mitte 2029 ausgeglichen. Der US-Staatsanleihenindex liegt weiter im Minus, anders als internationale Aktien und High Yield. Mit Kurzläufern fuhr man noch wesentlich besser: Bei ein- bis dreijährigen US-Unternehmensanleihen waren die Verluste infolge der Zinserhöhungen schon im November 2023 ausgeglichen. Ihre höheren Coupons und die kürzere Duration sorgten für höhere Gewinne, und vielleicht wird es so bleiben.
Höherer Carry: Aber das ist Schnee von gestern. Nur wenige Investoren, die Wert auf Alpha legen, hätten sich in den letzten fünf Jahren wohl für ein passives Staatsanleihenportfolio entschieden. Interessanter ist, was in den nächsten zwölf Monaten passiert, zumal US-Staatsanleihen anderen Anleihen, Prozents und risikobehafteten Titeln insgesamt den Takt vorgeben. Die US-Zehnjahresrendite liegt zurzeit knapp unter 4,6 Prozent; die Kurzläuferrenditen sind höher. Die gewichtete Rendite des ICE US Treasury Market Index beträgt 4,8 Prozent. Letztes Jahr betrug die Coupon-rendite dieses Index 2,7%, im Schnitt 22 Basispunkte monatlich. Die Monatsrenditen sind aber im Laufe der Zeit gestiegen – und sie werden noch weiter zulegen, wenn der Durchschnittscoupon steigt. Die Verluste aus der Zeit, als die Fed die Zinsen erhöht hat, sind dann also früher wettgemacht, als die Zahlen andeuten. Mit US-Staatsanleihen dürfte man demnächst 4 bis 5 Prozent verdienen. Wenn dann noch 90 bis 100 Basispunkte bei Investmentgrade-Anleihen und 350 bis 400 Basispunkte bei High Yield hinzukommen, sind US-Anleihen plötzlich interessant. Zinserhöhungen der Fed werden zwar den Erträgen in den USA und in anderen Ländern schaden, aber die Niedrigzinsphase ist vorbei. Investoren können mit Anleihen wieder laufenden Ertrag erzielen. Stabile Renditen wären kein schlechtes Ergebnis. Bis jetzt hat der Markt die 5-Prozent-Marke für zehnjährige US-Staatsanleihenrenditen noch nicht wieder getestet.
Kunsthandwerk: Kein Inflationsindex ist für die Geldpolitik wirklich optimal. Erinnern Sie sich noch daran, dass die Bank of England früher die Einzelhandelspreise gesteuert hat? Man rechnet Ausreißer heraus, passt die Gewichte an und konstruiert Inflationsindizes auf Basis des Ausgabeverhaltens unterschiedlicher Einkommensklassen, um eine „aussagekräftigere“ Inflationsrate zu bekommen. Gibt es so etwas wie ein wahres Inflationsmaß? Wahrscheinlich nicht. Und deshalb ist das, was die Notenbanken tun, auch mehr Kunst als Wissenschaft. Auch die Wahl eines Inflationsziels ist eher willkürlich als das Ergebnis ökonomischer Gesetzmäßigkeiten. In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts hatten die Notenbanken Glück, weil die Globalisierung, der Aufstieg des Niedriglohnlandes China zur Exportnation und der technische Fortschritt für fallende Güterpreise sorgten. Die Dienstleistungsprei-se stiegen hingegen immer um 3 bis 4 Prozent, und der Durchschnitt betrug dann etwa 2 Prozent. Hätte man das Inflationsziel damals auf 2,5 bis 3 Prozent festgelegt, hätten die Notenbanken jetzt ihre Ruhe.
Niemand will das Wirtschaftswachstum zum Erliegen bringen, nur, damit die Inflation um weitere 50 bis 100 Basispunkte fällt – vor allem, weil die Preisentwicklung in manchen Sektoren nach Corona noch immer nicht normal ist und kleine Anpassungen des Tagesgeldsatzes kaum viel bewirken. Die Notenbanken können die Zinsen jetzt nicht erhöhen, weil dann ihre Glaubwürdigkeit dahin wäre – und sie können sie auch nicht schnell senken, weil das der Glaubwürdigkeit nicht minder schadete. Die Marktzinsen spiegeln das ebenso wider wie die Anleihenrenditen. Taktisch sind amerikanische und britische Staatsanleihen daher interessant, und Unternehmensanleihen sind letzten Monat sehr viel attraktiver geworden, weil die Renditen gestiegen sind und sich die Spreads ausgeweitet haben. Das Anleihenjahr ist zäh, aber der Carry wird es richten: Carry us home.
Saisonende: Traurig, aber wahr: Als Fan von Manchester United hilft mir zurzeit nur die Schadenfreude über die Niederlage unseres größten Rivalen. Es wäre wirklich hart gewesen, wenn Manchester City in zwei Spielzeiten hintereinander das Triple gewonnen hätte. Aber Real Madrid hat das verhindert. Auch Liverpool gewinnt weniger, als einige hoffnungslos optimistische Fans geglaubt hatten. Nach wie vor kann United einen Titel holen, doch müssten wir dazu an diesem Wochenende Coventry schlagen, um dann gegen Chelsea oder City zu spielen. Wie auch immer – die Saison war fürchterlich. Einer der wenigen Lichtblicke war, dass mehrere begabte Jungstars zum Team stießen – und dann natürlich der Siegtreffer im Pokalspiel gegen Liverpool in der letzten Minute. Es kann nur besser werden. Einst-weilen hoffe ich auf Cricket, die Fußball-EM und die Olympischen Spiele.
Von Chris Iggo, CIO Core Investments, AXA Investment Managers