In den letzten 25 Jahren war der kurzfristige US-Realzins meist niedrig oder negativ – falls nicht gerade die Geldpolitik gestrafft wurde. Heute rechnet der Markt damit, dass er positiv bleibt. Das passt besser zu einer weichen Landung als zu einer Rezession. Anleihen haben von den Zinssenkungserwartungen und den schwächeren Konjunkturdaten profitiert. Der überdurchschnittliche Rückgang der Kurzfristzinsen hat die Zinsstrukturkurve steiler gemacht. Um mit Anleihen weiterhin viel zu verdienen und auf noch niedrigere Leitzinsen hoffen zu können, müssten die Rezessionsrisiken schon erkennbar zunehmen. Doch leider ist das nicht gut für risikoreichere Titel. Ohnehin sind sie im September meist schwächer, und nach dem Beige Book der Fed – einer Zusammenfassung der aktuellen Wirtschaftslage – hat auch die US-Wirtschaft nachgelassen. Phasenweise waren Aktien in den letzten Wochen sehr volatil. Sollte man vorsichtiger werden, weil die amerikanische Zinsstrukturkurve immer weniger invers wird?
Grenzen: Die Märkte loten die Grenze zwischen einer weichen Landung der US-Wirtschaft und einer Rezession aus. Wie stets geschieht das zunächst am Anleihenmarkt. Schon jetzt bilden die Kurse hier deutliche Zinssenkungen im nächsten Jahr ab. Für Ende 2025 wird eine Federal Funds Rate von 3,0% erwartet, satte 250 Basispunkte weniger als heute. Am Markt geht man davon aus, dass die Lockerung am 18. September beginnt. Auch wenn sich die Fed wohl mit 25 Basispunkten begnügt, schätzt der Terminmarkt die Wahrscheinlichkeit einer Senkung um 50 Basispunkte auf etwa 70%. Bis zum Jahresende werden demnach noch vier Senkungen um jeweils 25 Basispunkte erwartet, gefolgt von weiteren fünf im neuen Jahr. Interessant wird sein, wie die Fed ihre Senkung am 18. September verkauft. Das Beige Book vom 4. September signalisierte eine eher schwache Konjunktur und einen schwächeren Arbeitsmarkt.
Realzinsen: Zeigen die Kurse eine Rezession an? Noch wissen wir es nicht genau. Wenn die PCE-Kerninflation wieder auf ihren Zielwert von 2,0% fällt, dürfte der reale Leitzins positiv bleiben. Mit 1% läge er über dem Durchschnitt der letzten 30 Jahre (0,6%) und deutlich über dem Durchschnitt der letzten 20 (‑0,4%). Seit den späten 1990ern waren lange Phasen negativer Leitzinsen die Regel, nur kurzzeitig unterbrochen von deutlichen Anstiegen – immer dann, wenn die Fed die Zinsen anhob. Wenig spricht dafür, dass der kurzfristige Realzins mit 1% im Gleichgewicht ist. In den 1980ern war er wesentlich höher. Aber damals waren auch die Konjunkturschwankungen meist stärker, und außerdem hat sich die Wirtschaftsstruktur seitdem erheblich verändert: Arbeits- und Gütermärkte sind jetzt stärker reguliert, die Kapitalmärkte sind effizienter, und die Digitalisierung verändert ohnehin alles. In einer Rezession müsste der reale Kurzfristzins niedriger sein als zurzeit angenommen, sodass die Nominalzinsen fallen müssten (vielleicht wieder auf 2%). Nur dann könnten die langfristigen Anleihenrenditen deutlich unter den aktuellen fairen Wert fallen, der meiner Meinung nach zwischen 3,5% und 4,5% liegt.
Schwachpunkte: Einstweilen passen die Konjunkturdaten nicht zu einer echten Rezession. Im 2. Quartal ist die US-Wirtschaft annualisiert um 3% gewachsen, sodass eine Rezession nicht unser Hauptszenario ist. Denkbar ist aber ein Abschwung, und zwar vor allem im Verarbeitenden Gewerbe und am Arbeitsmarkt. Den jüngsten Daten zufolge gehen die offenen Stellen weiter zurück, weil der Nach-Corona-Boom ausläuft. Im Juli stieg die Arbeitslosenquote auf 4,3%, und das Beschäftigungswachstum außerhalb der Landwirtschaft hat sich in den letzten Monaten kontinuierlich verlangsamt. Bei Redaktionsschluss war der August-Arbeitsmarktbericht noch nicht veröffentlicht. Er wird maßgeblichen Einfluss darauf haben, ob man am Markt mit einer weichen Landung oder doch mit einer Rezession rechnet.
Abschwächung: Die Industriedaten sind schon länger schwach. Der ISM-Index für das Verarbeitende Gewerbe betrug im August nur 47,2 – und lag damit unter jenen 50 Punkten, ab denen man gemeinhin mit Wachstum rechnet. Negativ ist auch seine Tendenz; 47,2 sind weniger als der Durchschnitt der letzten sechs Monate. Das Verarbeitende Gewerbe schrumpft demnach nicht nur, sondern auch immer schneller. Früher hätte man das Abschwung oder vielleicht auch Rezession genannt. Für Staatsanleihen war das meist gut, während die Erträge von Unternehmensanleihen und Aktien dann meist unter ihrem Langfristdurchschnitt lagen.
Das Jahr der Anleihe: Die jüngste Marktentwicklung passt zu einem schwächeren Wachstum. Wegen fallender Zinserwartungen im 3. Quartal hat man mit Anleihen sehr viel verdient. Wie von uns schon länger prognostiziert, hat sich die US-Zinsstrukturkurve ansatzweise normalisiert; die Zweijahresrendite liegt jetzt nur noch knapp über der Zehnjahresrendite. Anfang 2023 hatte der Abstand noch 100 Basispunkte betragen. Allerdings sind die Renditen im Sommer über alle Laufzeiten gefallen.
Vom 30. Juni bis zum Handelsschluss am 5. September hat man mit US-Staatsanleihen insgesamt 4,8% verdient, mit amerikanischen Investmentgrade-Titeln 5,1% und mit US-High-Yield 3,9%. Auch für andere Anleihenmärkte war der Sommer die beste Zeit des Jahres. Man weiß, dass man sich in einer Anleihenhausse befindet, wenn alle von „Übertreibung“ sprechen. Bis jetzt hat das 3. Quartal einen großen Anteil am Ertrag seit Jahresbeginn. Mit internationalen Investmentgrade-Titeln verdiente man 3% bis 4%, mit High Yield über 6% und mit Emerging-Market-Fremdwährungsanleihen sogar fast 7%.
Volatilität: Im August und in der ersten Handelswoche im September waren Aktien volatiler als zuvor. Seit dem 30. Juni hat man mit dem MSCI World Index 1,9% verdient, der S&P 500 hat um 1,03% zugelegt, und der NASDAQ hat 3,3% verloren. Die Anleihenerträge waren zwar gut, aber die Mehrerträge von Credits waren niedriger als in der ersten Jahreshälfte. Seit dem 30. Juni lagen amerikanische Investmentgrade-Anleihen nur um 10 Basispunkte vor US-Staatsanleihen, nach 13 Basispunkten im 2. und 103 Basispunkten im 1. Quartal. Der Mehrertrag von US-High-Yield, 2023 noch hohe 9,1 Prozentpunkte, fällt dieses Jahr mit 2,9 Prozentpunkten vergleichsweise bescheiden aus. Credits schätze ich aber noch immer. Dennoch muss man sich fragen, ob hohe Mehrerträge gegenüber Staatsanleihen realistisch scheinen, wenn die Credit Spreads eng sind und die Konjunktur nachlässt. Wenn man die ISM-Indizes ernst nimmt und dann noch der Arbeitsmarkt schwächelt, ist das Fazit eigentlich klar: Die Konjunktur lässt nach, und Finanzkraft und Gewinne der Unternehmen werden unsicherer. Die Risikoprämien sind aber niedrig. Das könnte für eine konservativere Strategie sprechen.
Nicht mehr so teuer: US-Aktien waren in letzter Zeit teurer als Aktien aus anderen Ländern. Begründet wurde ihr höheres Kurs-Gewinn-Verhältnis mit der Dominanz von Wachstumsaktien, aber auch mit dem insgesamt höheren Gewinnwachstum. Wachstumswerte werden ein Thema bleiben, aber das Gewinnwachstum könnte bei einer schwächeren Konjunktur nachlassen. Auch waren die Credit Spreads in den USA meist enger als in anderen Ländern. Wenn die US-Wirtschaft nicht mehr um 3% wächst, die Arbeitslosigkeit steigt und das jetzt noch zweistellige Gewinnwachstum zurückgeht, könnten sich die Bewertungen in den USA denen in anderen Ländern annähern. Außerdem sollte man die Politik nicht aus dem Blick verlieren: Das politische Klima ist nirgendwo wirklich gut, aber in den USA steht eine Entscheidung an, die für große Unsicherheit sorgt.
Trägheit: In den letzten Jahren haben wir gelernt, dass Konjunkturmodelle die Trägheit der Märkte oft unterschätzen. Der Inflationsschock war stärker und länger als erwartet, und auch der Arbeitsmarktboom nach Corona dauerte erstaunlich lange. Vielleicht endet auch der Abschwung später als erwartet, sodass die Zinsen weiter fallen und die Risikoprämien steigen könnten. Mit einem 60/40-Portfolio – 60% Aktien, 40% Anleihen – hätte man dieses Jahr bislang ordentlich verdient. Wenn risikobehaftete Wertpapiere jetzt nachgeben, federn Anleihen diese Verluste vielleicht besser ab, als wir es aus den letzten 20 Jahren gewohnt sind.
Von Chris Iggo, CIO Core Investments, AXA Investment Managers