Bald ist es so weit. Nach den Umfragen wird es knapp. Aber was hofft und fürchtet der Durchschnittsamerikaner? Die letzten Jahre waren nicht einfach. Die Inflation war hoch, die Ungleichheit wuchs. Aber immer mehr Menschen haben Arbeit, und die Aktienkurse steigen und steigen. Man wird viel über den Wahlausgang diskutieren – aber für Investoren zählt, ob US-Unternehmen weiterhin ordentliche Cashflows erzielen und man mit Anleihen und Aktien auch in Zukunft etwas verdienen kann. Auf jeden Fall könnten die Wahlen vom 5. November mittelfristig Auswirkungen auf die risikoadjustierten Erträge haben.
Neue Erwartungen?
Bei Anlageentscheidungen kommt es auf die erwartete Inflation an. Die Teuerung im Anlagezeitraum beeinflusst den Realertrag. Deshalb wünschen wir uns eine stabile Inflationsrate. Sie ist aber nicht nur für Anleger wichtig, sondern auch für die Wirtschaft. Die Konsumentscheidungen der Haushalte und die Investitionsentscheidungen der Unternehmen sind einfacher, wenn die Preisentwicklung einigermaßen berechenbar ist. Inflationsschocks wie 2022 schaden den Realerträgen und erschweren Entscheidungen. Deshalb sind Inflationsziele so wichtig. Die Notenbanken wissen das und bemühen sich um stabile Inflationserwartungen. Sie hängen von den institutionellen Rahmenbedingungen, der Wirtschaftslage und den jüngsten Erfahrungen von Verbrauchern und Unternehmen ab. War die Inflation hoch, steigen die Erwartungen und werden volatiler. Die Notenbanken müssen das verhindern – indem sie die Menschen von einer „Normalisierung“ der Inflation überzeugen und verhindern, dass die Teuerung Ausgabeverhalten, Lohnforderungen und Preise dauerhaft beeinflusst. Im laufenden Zyklus haben die Notenbanken keinen schlechten Job gemacht.
Ordentliche Realerträge
Die Inflationsrate ist für die Märkte also wichtig. Bei einer nominalen Anleihenrendite von 5% und einer erwarteten Inflation von 2% kann man auf 3% Realrendite hoffen. Wenn die Anleger wieder mit einer nahezu stabilen Teuerung rechnen, können sie auch ordentliche Realerträge erwarten. Durch den Renditeanstieg seit der Zinssenkung der Fed um 50 Basispunkte am 18. September kann man mit Anleihen wieder etwas mehr verdienen. Ich selbst halte die Zinssenkung nicht für falsch, sehe aber auch keinen Grund für den Renditeanstieg. Niemand weiß, was bei einer Senkung um nur 25 Basispunkte passiert wäre, aber vermutlich sähe es dann jetzt nicht sehr viel anders aus. Für mich hat der Renditeanstieg über alle Laufzeiten mehr mit der höheren Unsicherheit kurz vor den US-Wahlen zu tun. Hinzukommen dürfte eine gewisse Risikoprämie dafür, dass eine „goldilocksähnliche“ Rückkehr zum neutralen Zins im nächsten Jahr vielleicht doch schwieriger ist, als man Anfang September noch glaubte. Heute betragen die impliziten US-Inflationserwartungen für die nächsten zehn Jahre 2,3%, bei 4,2% nominaler Zehnjahresrendite. Demnach wäre mit knapp 2% Realertrag p.a. zu rechnen. Ein solcher risikoloser Realzins scheint mir in Ordnung.
Preisniveau
Für die Wähler zählt aber etwas anderes. Ob sie die Regierung bestätigen oder etwas Neues wollen, hängt davon ab, wie sie die Veränderung ihres Lebensstandards einschätzen. Für sie zählt also die bisherige Inflation, und je weniger sie verdienen, desto mehr achten sie auf die Preise von Basiskonsumgütern – Lebensmittel, Energie, Transport, Gesundheitsversorgung und so weiter. Die Wähler sehen die heutigen Preise und den Anteil ihres Einkommens, den sie zurzeit für den wöchentlichen Lebensmitteleinkauf ausgeben müssen. Das vergleichen sie dann mit ihren Erinnerungen. Nach den offiziellen Inflationszahlen sind die Lebensmittelpreise in den letzten vier Jahren um 26% gestiegen.
Ich habe mir die amerikanische Verbraucherpreisentwicklung in den Amtszeiten der einzelnen Präsidenten bis zum September vor dem Wahltag angesehen (meist der letzte Monat, für den Anfang November Zahlen vorliegen). Unter Biden sind die Verbraucherpreise von November 2020 bis September 2024 um 20% gestiegen, der stärkste Anstieg seit Ronald Reagans erster Amtszeit von 1981 bis 1985. Auffällig ist, dass beide Kandidaten diesmal über Möglichkeiten der Inflationseindämmung gesprochen haben – und nicht über das sehr viel wichtigere Thema des langfristigen Anstiegs der Staatsverschuldung. Beide Kandidaten wissen, wie sehr höhere Lebensmittel- und Benzinpreise die Wähler ärgern, und versprechen deshalb, etwas dagegen zu tun. Ich denke an die Metapher vom Pferd, hinter dem man die Stalltür schließt, nachdem es schon durchgegangen ist.
Lebenshaltungskosten könnten das Weiße Haus kosten
Wenn der Lebensstandard leidet, können auch andere Themen die Wähler bewegen. Deshalb wird so übertrieben viel über die Persönlichkeit der Kandidaten und ihre Haltung zu oft völlig unwichtigen gesellschaftlichen Themen gesprochen. Weil die Umfragen eng sind, scheint jeder Angriff auf den Gegenkandidaten erfolgversprechend. Trump sagt gern, dass die derzeitige Administration wegen der Inflation dem Lebensstandard geschadet habe. Dabei sind die verfügbaren Einkommen während Bidens Präsidentschaft so stark gestiegen wie seit den frühen 1990ern nicht mehr. Theoretisch haben auch die Realeinkommen leicht zugelegt, aber die Wähler nehmen das kaum wahr, und aufgrund der Einkommensverteilung fühlen sich viele ärmer. Wenn Trump gewinnt, liegt das meiner Meinung nach nicht daran, dass die Wähler seine Charakterschwächen nicht erkannt haben und ihnen sein Verhalten gleichgültig ist. Sie ärgern sich über ihren stagnierenden Lebensstandard und hoffen, dass mit Trump alles besser wird.
Höhere Anleihenvolatilität
Natürlich hängt das Wahlergebnis am Ende nicht allein davon ab, wie sich der Verbraucherpreisindex in den letzten vier Jahren entwickelt hat. Die Inflation ist wichtig, aber es gibt auch andere Themen: die niedrige Arbeitslosigkeit, das Rekordhoch am Aktienmarkt, die Erholung des Wohnungsbaus. All das dürfte Kamala Harris helfen. Aber dann sind da noch das populistische Schreckgespenst der Einwanderung und alles, was die Republikaner als Linksruck bezeichnen. Das macht den Wahlausgang schwer berechenbar. Vielleicht wird das Ergebnis wieder angezweifelt. Letzten Monat ist die Zinsvolatilität gestiegen, und es könnte dauern, bis sie sich wieder legt. Wetten auf die Richtung der Langfristrenditen werden schwierig; sie könnten noch einige Zeit volatil bleiben. Einmal mehr gibt es deshalb gute Argumente für kürzer laufende Qualitätsanleihen oder Buy-and-Hold-Anlagen in Unternehmensanleihen.
Unabhängig von den Umfragen sind die USA stark
Entscheidend für Investoren ist aber letztlich, wie es mit der amerikanischen Wirtschaft weitergeht. Ist eine Rezession überhaupt möglich, wenn selbst die höheren Zinsen keine ausgelöst haben? Einbrechen könnte die Konjunktur aber, wenn tatsächliche oder befürchtete politische Entscheidungen die Ausgaben bremsen und die Cashflows der Unternehmen fallen. Bei Konjunkturzweifeln könnten sich Investoren auch mehr Sorgen um die Staatsfinanzen machen. Die Risikoprämien länger laufender Titel, bei Staatsanleihen vielleicht schon jetzt erhöht, könnten weiter steigen. Vielleicht wird auch die Geldpolitik reagieren, sodass die Leitzinsen dann dauerhaft höher wären. Dies und weniger berechenbare Unternehmensgewinne würden amerikanischen Titeln schaden. So weit ist es zwar noch lange nicht, aber trotz der hohen Vergangenheitserträge ist die strategische Asset-Allokation in den USA zurzeit nicht wirklich einfach.
In den nächsten Wochen wird man die US-Wirtschaft intensiv beobachten. Schlechte Zahlen könnten Aktien und Anleihen schaden. Doch wie schrieb eine Bank ihren Kunden diese Woche? Wirtschaftswachstum und Aktienerträge sind meist erstaunlich stabil – egal, wer im Weißen Haus sitzt.
Von Chris Iggo, CIO Core Investments bei AXA Investment Managers