Inmitten einer weiteren Coronavirus-Welle, der Migrantenkrise an der polnischen Grenze zu Belarus und Berichten, denen zufolge Russland Hunderttausende Truppen an die ukrainische Grenze verlegt, treten Nachrichten über weitere ergebnislose Gespräche zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich bezüglich Nordirland in den Hintergrund. Dennoch gibt es wichtige Hinweise auf den wahrscheinlichen Ausgang der Verhandlungen – und diese sind nicht gut.
Man hat keine Eile, eine Einigung zu erzielen. Das betont auch der EU-Hauptverhandlungsführer Maros Sefcovic in diversen Interviews. Da könnte er Recht behalten: Die britische Regierung hat bereits im Juli angekündigt, dass sie die Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in dem als Nordirland-Protokoll bekannten Abkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich abschaffen will. Doch wurde das in letzter Zeit kaum bis gar nicht thematisiert, auch nicht in der jüngsten Erklärung des britischen Verhandlungsführers David Frost. Nicht einmal die äußerste Grenze des Vereinigten Königreichs wurde erörtert. Warum sollte man sich dann die Mühe machen, über Arzneimittel oder Grenzkontrollen zu verhandeln, wenn die EU den Ausschluss des EuGH mit ziemlicher Sicherheit nicht akzeptieren wird? Vielleicht bedeuten die Verhandlungen selbst das Ende und nicht den Weg dorthin.
Für uns steht fest: Die Anreize für eine Einigung haben sich verringert. Im Jahr 2020 waren sowohl die EU als auch das Vereinigte Königreich stark motiviert, sich zu einigen. Ein “No-Deal-Brexit“ hätte die Beziehungen zwischen beiden Parteien und alles, was damit zusammenhängt, in Mitleidenschaft gezogen. Der starke Anreiz ist für die britische Regierung jedoch nicht mehr vorhanden. Ein Abkommen umzusetzen, das zutiefst unpopulär ist, ist schlimmer, als ewig darüber zu verhandeln. Gleichzeitig werden unangenehme Regeln außer Kraft gesetzt und die Stimmung unter den konservativen Wählern steigt, weil man das Brexit-Thema am Leben hält. Hier wird eine rationale Strategie verfolgt.
Dies führt jedoch zu einem instabilen Gleichgewicht. Die endlosen Verhandlungen haben für beide Seiten ihren Preis. Während zusätzliche Bürokratie den Handel zwischen Nordirland und dem britischen Festland behindert, boomt der Handel zwischen Nordirland und der Republik Irland. In der Praxis wird die irische Insel viel stärker integriert. Und das Nordirland-Protokoll wird nach wie vor nur teilweise umgesetzt. Bevor die “Gnadenfristen“ auslaufen, muss die EU entweder eine Kehrtwende vollziehen, die ihrer Glaubwürdigkeit schadet, oder Kontrollen einführen, die die Spannungen wahrscheinlich noch verschärfen werden. Dieses instabile Gleichgewicht kann nicht ewig halten. Es könnte jederzeit und auf jede Art und Weise zerbrechen. Das könnte zu sektiererischer Gewalt in Irland, einer Aussetzung des gesamten Brexit-Abkommens und Handelsvergeltungsmaßnahmen führen. Man kann nur hoffen, dass beide Seiten bereit sind, ihren Stolz zu überwinden und pragmatisch zu handeln.“
Matteo Cominetta, Senior Economist, Barings Investment Institute