„Giorgia Meloni hat ihre gesamte politische Laufbahn in Organisationen verbracht, die sich offen nostalgisch zur faschistischen Vergangenheit Italiens bekennen. Sie hat sich nicht gescheut, extreme, oft verstörende Ansichten zu äussern. Sie wird Italiens nächste Ministerpräsidentin sein. Und doch sind die Märkte entspannt: Die italienische Börse ist heute die beste in Europa, die Anleihespreads und der Euro sind mehr oder weniger stabil. Wie kommt das?
Dies ist keine Wiederholung von 2016, als der Brexit und Trump die Weltordnung erschütterten. Ob man ihre Ansichten nun mag oder nicht, Meloni ist sich der Schwächen der italienischen Wirtschaft und Politik sehr wohl bewusst - im Gegensatz zu vielen Politikern, die die marginale Rolle ihres Landes auf der Weltbühne anscheinend nicht sehen wollen oder können. Sie wird das Land nicht aus dem Euro oder der NATO herausführen, aber sie wird auch keine riesigen, nicht finanzierten Steuersenkungen für die Reichen und keine Ausgabenwut ankündigen.
Die rechte Partei Lega Nord, die offen für Putin eintritt und sich für wahllose öffentliche Ausgaben einsetzt, hat extrem schlecht abgeschnitten. Der immer wiederkehrende Berlusconi, der eine ähnliche Politik verfolgt, bleibt ein kleiner Teil der Rechtskoalition. Meloni wird also über einen grossen Spielraum verfügen.
Jenseits des Brustklopfens wird ihre Wirtschafts- und Aussenpolitik im Zeichen der Kooperation, nicht der Konfrontation, mit Europa und den USA stehen. Es wird nicht alles glatt laufen, aber es wird nicht vergleichbar sein mit dem konfrontativen Ansatz der Regierung, die aus den Wahlen 2018 hervorging. Frau Meloni wird ihre extremen Ansichten wahrscheinlich in der Sozialpolitik wie Einwanderung, geplante Elternschaft und Italiens Verhältnis zu seiner faschistischen und kolonialen Vergangenheit umsetzen. Sie kann also durchaus ein Problem für Italien sein, aber kaum für Europa.»
Matteo Cominetta, Senior Economist bei Barings
Matteo Cominetta kam von der Europäischen Zentralbank zu Barings, wo er als Senior Economist in der Abteilung für Finanzstabilität und Regulierung tätig war. Zuvor hatte er verschiedene Positionen bei UBS, HSBC, dem Europäischen Stabilitätsmechanismus und der Europäischen Kommission. Matteo Cominetta hat einen Bachelor-Abschluss in Wirtschaftswissenschaften von der Bocconi University und einen Doktortitel in Wirtschaftswissenschaften von der University of Sussex.