«Der Beginn des Jahres 2023 hat die Anleger überrascht. Während die meisten mit dem drohenden Untergang Europas rechneten, zwang eine Reihe positiver Überraschungen in Bezug auf Gaseinsparungen, Inflation und die Wiedereröffnung Chinas viele zum Umdenken.
Die heute veröffentlichten Einkaufsmanagerindizes zeigen, dass auch die "Realwirtschaft" die Aussichten für 2023 deutlich positiver einschätzt. Die Geschäftserwartungen stiegen so stark wie seit Juni 2020 nicht mehr, die Stimmung verbesserte sich sowohl im verarbeitenden Gewerbe als auch im Dienstleistungssektor und in allen Ländern der Eurozone. Die Unternehmen scheinen die verbesserten Erwartungen mit zusätzlichen Einstellungen zu erfüllen: Der Beschäftigungsindex beschleunigte sich sowohl im verarbeitenden Gewerbe als auch im Dienstleistungssektor und erreichte im Januar die höchste Rate seit drei Monaten. Die Produktion nahm schliesslich im Dienstleistungssektor zu und schrumpfte im verarbeitenden Gewerbe nur geringfügig.
Alles in allem scheint die grosse Angst vorbei zu sein. Angesichts der Tatsache, dass die für 2023 erwarteten Gaspreise auf die Hälfte des noch vor einem Monat erwarteten Niveaus gesunken sind, kann man verstehen, warum. Dennoch schlägt der Optimismus schneller als erwartet auf die Dienstleistungen und die Industrie durch.
Entscheidend ist, dass die niedrigeren Energiepreise auch die Arbeit der EZB wesentlich erleichtern: Die gefürchtete Möglichkeit, die Zinsen in einer rezessiven Wirtschaft anheben zu müssen, weil die Energiepreise die Inflation hoch gehalten haben, wird von Tag zu Tag unwahrscheinlicher. Die Inputpreise haben sich in den jüngsten PMIs erneut verlangsamt, während die Aktivität weiter zunimmt. Alles in allem kann die EZB nun ihren Kurs von zwei Zinserhöhungen um 50 Basispunkte in den nächsten beiden Sitzungen beibehalten, ohne sich allzu grosse Sorgen um die Verschärfung eines bevorstehenden Abschwungs zu machen. Sollte der Winter mild bleiben und China nicht zu viel Gas verbrauchen, könnte das sagenumwobene Land der weichen Landung auf dem schwachen, alten Kontinent tatsächlich eintreten. Da europäische Aktien immer noch mit einem Abschlag gehandelt werden, wären sie in diesem Fall kaum noch zu übersehen.
Die verbesserten Erwartungen reichten nicht aus, um die Wirtschaftstätigkeit im Vereinigten Königreich zu stützen. Personalknappheit, Streiks und Exportverluste scheinen ihren Tribut an der Produktion gefordert zu haben, die den stärksten Rückgang seit Januar 2021 verzeichnete. Besorgniserregend ist, dass auch im verarbeitenden Gewerbe starke Rückgänge zu verzeichnen waren, die sich nicht allein mit Streiks erklären lassen. Der Silberstreif am Horizont war die Inflation, bei der sich eine gewisse Abkühlung abzeichnete. Ob dies ausreicht, um das gefürchtete Szenario einer Zinserhöhung in einer Rezession zu vermeiden, lässt sich noch nicht sagen.»
von Matteo Cominetta, Senior Economist bei Barings
Biografie: Matteo Cominetta, Senior Economist bei Barings
Matteo Cominetta kam von der Europäischen Zentralbank zu Barings, wo er als Senior Economist in der Abteilung für Finanzstabilität und Regulierung tätig war. Zuvor hatte er verschiedene Positionen bei UBS, HSBC, dem Europäischen Stabilitätsmechanismus und der Europäischen Kommission. Matteo Cominetta hat einen Bachelor-Abschluss in Wirtschaftswissenschaften von der Bocconi University und einen Doktortitel in Wirtschaftswissenschaften von der University of Sussex.