Digital Health: Geburt eines digitalen Healthcare-Giganten

Mit der Übernahme von Livongo durch Teladoc Health entsteht ein schlagkräftiges Digital-Health-Unternehmen mit dem Potenzial, das US-Gesundheitswesen zu revolutionieren. Stefan Blum, Portfoliomanager Medtech & Services bei Bellevue Asset Management, beantwortet dazu einige wichtige Fragen. Bellevue Asset Management | 24.08.2020 13:23 Uhr
Stefan Blum, Portfoliomanager Medtech & Services, Bellevue Asset Management / © Bellevue Asset Management AG
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Teladoc Health bleibt auch nach dem Zusammenschluss ein kleiner Healthcare-Player: Mit einem geschätzten Jahresumsatz von USD 1.8 Mrd. in 2021 erreicht das Unternehmen im USD 3.5 Bio. großen US-Gesundheitsmarkt nicht mal den Promillebereich. Aber diese Tatsache ist nicht ausschlaggebend. Das Gemeinschaftsunternehmen hat das Potenzial, die erste Plattform zu werden, die über die finanziellen Möglichkeiten verfügt, sich zu einem vollintegrierten Virtual-Care-Anbieter zu entwickeln. Eine Marktkapitalisierung um die USD 25 Mrd. und kein Zwang mittelfristig Gewinne zu erwirtschaften, werden es Teladoc Health ermöglichen, jedes Jahr organisch über eine USD 1 Mrd. in das Unternehmenswachstum zu investieren (der geschätzte Bruttogewinn 2021 liegt bei USD 1.2 Mrd.). Darüber hinaus kann das Unternehmen noch jährlich USD 3-4 Mrd. zusätzliches Kapital an der Börse aufnehmen, sollten grössere Wachstumsinvestitionen anstehen.

Digitalisierung des Gesundheitswesens hat gerade erst begonnen

Einige Investoren fragen sich bereits, ob diese Transaktion ein Zeichen für eine Überhitzung des Digital-Health-Marktes ist? Mitnichten! Das Rennen wurde eben erst gestartet. Einer der wichtigsten Gründe, warum wir so überzeugt vom Renditepotenzial von Digital Health sind, ist der Umstand, dass das gesamte Gesundheitswesen weder industrialisiert noch digitalisiert ist. Für die bevorstehenden und unaufhaltsamen Marktentwicklungen gibt es außerdem bereits unzählige erfolgreiche Fallbeispiele. Und auch das technologische Risiko ist überschaubar: Was heute neu im Gesundheitswesen implementiert wird, ist anderenorts bereits seit mehr als 10 Jahren erfolgreich im Einsatz.

Erleben wir den «Urknall» von Virtual Care?

Es ist nicht auszuschließen, dass mit der Übernahme von Livongo durch Teladoc Health das neue «Amazon des Gesundheitswesens» lanciert wird. Bisher war es das erklärte Ziel von Teladoc Health, das marktführende Eintrittsportal für Menschen mit einem akuten medizinischen Problem zu werden. Nur eine Minderheit in den USA hat einen Hausarzt. Die einfache Lösung für Menschen mit Symptomen oder medizinischen Fragen ist, Teladoc Health anzurufen oder eine Nachricht oder Videoanfrage via App zu senden. Kann die Anfrage nicht virtuell geklärt werden, wird der Kunde weiter in die «reale Welt» zu einem Spezialisten aus dem Teladoc-Health-Netzwerk weitergeleitet. Das Geschäftsmodell kann mit Uber verglichen werden, nur sind die Dienstleister keine Fahrer, sondern Freelance-Ärzte. Auch hier gilt: Wer den grössten Patientenstrom generiert, hat auch die meisten Ärzte auf der Plattform. Das Marktpotenzial ist riesig und alle Patientendaten landen in der Teladoc-Health-eigenen elektronischen Patientenakte.

Virtual Care ist wie gemacht für chronische Krankheiten

Noch grösser allerdings ist das Marktpotenzial der chronischen Krankheiten. Hier geht es nicht um den akuten punktuellen Einsatz auf Abruf, sondern um die langfristige Beziehung mit dem Patienten, das heißt um die Behandlung einer Krankheit wie zum Beispiel Diabetes. Chronische Krankheiten sind für 80% der gesamten Gesundheitskosten verantwortlich, was etwa 10% des globalen Bruttosozialprodukts entspricht. Hier setzt Livongo an. Ursprünglich auf Diabetes fokussiert, hat das Unternehmen bereits in weitere chronische Krankheitsgebiete wie Bluthochdruck oder Übergewicht expandiert, die eng mit Diabetes verbunden sind. Ein weiteres großes Feld ist die «mentale Gesundheit», da haben beide Unternehmen bereits ein eigenständiges Angebot am Markt. Noch wichtiger als die Marktgröße ist das Potenzial von Virtual Care, die Behandlungsqualität massiv zu verbessern und gleichzeitig Kosten einzusparen. Nirgends sonst können die digitalen Ansätze ihre Vorteile besser ausspielen: Patienten können rund um die Uhr betreut werden, egal wo sie sind. Das virtuelle Patientenmanagement hat klare Vorteile gegenüber der vorherrschenden Betreuung durch Fachspezialisten, die ihre Patienten nur ein- bis zweimal pro Jahr beim physischen Arztbesuch sehen.

Erfolgschancen stehen gut, wenn die Investoren mitmachen

Veränderungen im Gesundheitswesen benötigen viel Aufklärungsarbeit und Überzeugungskraft, aber vor allem Finanzkraft. Die Investoren müssen an den zukünftigen Erfolg, das Erreichen der langfristigen Marktdominanz, glauben. Sie müssen den Weg zum Ziel sehen können. Im Fall von Teladoc Health ist der adressierbare Markt gigantisch gross. Solange das Management den Investoren glaubhaft vermitteln kann, dass es voll auf Kurs ist, kann die Finanzierungskraft von Teladoc Health die von viel grösseren Unternehmen um das Mehrfache übertreffen. Tesla ist dies besser als jedem anderen Unternehmen gelungen. Es konnte so die gigantischen Vorabinvestitionen realisieren, während die etablierten Autobauer im Korsett der Old Economy gefangen waren.

Weckruf für die grossen US-Spitalketten

Es stellt sich die Frage, wie sich die anderen Stakeholder im Gesundheitswesen verhalten werden. Die Zeit drängt bei den Spitälern. Sie sollten ihre Wettbewerbsvorteile nutzen, um einen nahtlos integrierten virtuellen Versorgungskanal in das bestehende physische Leistungsangebot einzubinden. Alle physischen Komponenten sind bereits vorhanden: die Ärzte, das Netzwerk mit den Versicherern, die Infrastruktur, eine starke lokale Verankerung und das Vertrauen in der Bevölkerung. Teilweise verfügen die Dienstleister auch über einen Markenwert mit Weltruf wie beispielsweise das Memorial Sloan Kettering Cancer Center, der eine Marktausweitung weit über das existierende Einzugsgebiet erlauben würde.American Well (Amwell), ein Konkurrent von Teladoc Health, könnte in diesem Prozess eine Schlüsselrolle spielen. Die Firma hat einen anderen Weg eingeschlagen und setzt konsequent auf die Rolle des «neutralen Softwareanbieters», der den etablierten Krankenhausketten, aber auch den Versicherern Virtual Care ermöglicht. Amwell könnte also durchaus von der aktuellen Situation profitieren, wenn die Krankenhausbetreiber den Ernst der Lage erkennen.

Aber auf jeden Fall ist Eile angebracht, denn auch tief verankerte Wettbewerbsvorteile gehen in einer Digitalisierungswelle schnell verloren. So hat Teladoc Health seit Mitte 2017 durch die Akquisition von Best Doctors eine weitere wichtige Komponente im Verbund. Internationale Key Opinion Leaders, Fachspezialisten aller Krankheitsgebiete, geben ihre Zweitmeinung ab, z.B. zu wichtigen klinischen Entscheiden wie der Planung einer komplexen Krebsbehandlung. Mit den finanziellen Möglichkeiten könnte Teladoc Health auch Talente abwerben und exklusiv in ihr Netzwerk einbinden. Auch auf der Softwareseite hat Teladoc zum Jahresbeginn InTouch Technologies, den einzigen relevanten Konkurrenten von Amwell, zu einem Schnäppchenpreis von USD 155 Mio. übernommen. Heute, nach dem Ausbruch von COVID-19, läge der Kaufpreis wohl jenseits der Milliardengrenze.

Rennen ist definitiv lanciert, aber der Ausgang ist (noch) offen

Das Teladoc Health Management hat in seiner Entwicklung bisher alles richtig gemacht und die strategische Weitsicht mehrfach unter Beweis gestellt. Schafft es das Management, die Investoren von ihrem Plan zu überzeugen, sind die finanziellen Mittel fast unbegrenzt, während sich die anderen Stakeholder an die Vorgaben der Old Economy halten müssen. Entscheidend wird sein, wie aktiv die Versicherer in den Wettbewerb eingreifen und eigene vergleichbare Angebote anbieten werden. Aber das Geschäftsmodell von Teladoc Health ist 100% deckungsgleich mit den Forderungen der Versicherer: bessere klinische Ergebnisse bei tieferen Kosten. Die Versicherer werden neben den Patienten auf jeden Fall zu den Gewinnern gehören. Die Krankenhausbetreiber haben ihre Zukunft selbst in der Hand. Andere Branchen sind gute Fallbeispiele dafür, was passiert, wenn man digitale Herausforderer wie zum Beispiel Amazon nicht ernst nimmt. Da ist es durchaus angebracht, das Korsett der Old Economy und des Kapitalmarktes für eine gewisse Zeit abzulegen, um das langfristige Überleben zu sichern.

Kurspotenzial von Teladoc Health ist grösser denn je

Der Aktienkurs von Teladoc Health wird wahrscheinlich noch längere Zeit volatil bleiben, aber der Investment Case ist attraktiver denn je. Alle Zutaten für eine Erfolgsgeschichte liegen bereit. Mit der Unterstützung der Investoren könnte sich Teladoc Health zu einem «Amazon des Gesundheitswesens» entwickeln. Das Unternehmen würde nicht nur einen Grossteil der Digital-Health-Dienstleistungen selbst erbringen, sondern auch mittels Kooperationen mit den etablierten Leistungserbringern den Patientenstrom dirigieren und wie Apple «Maut kassieren». Das Management von Teladoc Health hat bis jetzt die strategische Weitsicht und Umsetzungsstärke eindrücklich bewiesen. Aber vielleicht greift ja einer der Techgiganten ins Geschehen ein. Nicht umsonst investieren Alphabet/Google, Apple und Microsoft Milliarden in den Healthcare-Sektor – allerdings mit sehr mässigem Erfolg. Die Aussicht, einen Sektor, der über 12% des globalen Bruttosozialprodukts repräsentiert, zu modernisieren, ist einfach zu verlockend. Und eine Teledoc-Health-Übernahme zahlen diese Techgiganten aus der Portokasse. Es bleibt spannend.

Stefan Blum, Portfoliomanager Medtech & Services, Bellevue Asset Management

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