Zunächst die positiven Aspekte. Nach den schlimmen Tagen im Februar sehen wir in Europa nun erfreulicherweise eine allmähliche Stabilisierung der Neuinfektions- und Todeszahlen. Diese Entwicklung ist zu einem wesentlichen Teil auf die umfassenden Lockdowns, die verordnete soziale Distanzierung und andere Maßnahmen zurückzuführen, die die Regierungen in allen Ländern der Region ergriffen haben. Spanien, Italien und Deutschland lockern langsam die Beschränkungen für ihre Bürger, von denen viele inzwischen an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt sind. Obwohl das Ende der Pandemie noch nicht in Sicht ist, sind dies zweifellos gute Nachrichten.
Auch die Märkte haben sich von den Tiefstständen Mitte März erholt – und das in einem Tempo, das durchaus beachtlich ist. Nach einem Kurssturz von 35% zwischen dem 20. Februar und dem 24. März haben die europäischen Aktienmärkte seitdem über 20% zugelegt und damit mehr als die Hälfte der früheren Verluste wieder wettgemacht.
Diese rasche Markterholung ist auf die Stabilisierung der Covid-19-Fälle sowie die fiskal- und geldpolitischen Maßnahmen rund um den Globus zurückzuführen, die in ihrem Ausmaß beispiellos und beeindruckend sind. Weltweit haben die Zentralbanken die Zinsen drastisch gesenkt und Unmengen an Liquidität in die Märkte gepumpt. Damit haben sie verhindert, dass aus einer Gesundheitskrise eine ausgewachsene Finanzkrise wird.
Hilfreich war zudem die im Vergleich zu früher stärkere Finanzkraft der Banken. Dank immer strengerer Vorschriften sind ihre Bilanzen heute um einiges robuster und resilienter als in den letzten Krisen. Und die insgesamt bessere Liquidität ermöglicht es den Geldhäusern, die Realwirtschaft auch in dieser für alle schwierigen Zeit mit Kapital zu versorgen.
Gewinne und Dividenden sind weniger schlecht als befürchtet
Das heißt aber beileibe nicht, dass wir schon über den Berg sind. Schauen wir uns etwa die Unternehmensgewinne an. Mit der Schließung nahezu aller Unternehmen sind die Umsätze weggebrochen, was den Gewinnen einen herben Schlag versetzen wird. In einem gemäßigten Szenario könnte ein Gewinnrückgang von 20% in diesem Jahr die Folge sein. Kommt es schlimmer, sind Gewinneinbußen um rund 70-80% zu befürchten. Angesichts der aktuellen Situation halten wir einen Gewinneinbruch von 50% für realistisch.
Müssen wir also in Panik geraten? Wir glauben nicht. Die wirtschaftlichen Folgen eines schlechten Jahres für ein Unternehmen sollten sich in Grenzen halten. Schließlich werden aus guten Unternehmen nicht über Nacht schlechte. Wie lange die negativen Auswirkungen zu spüren sein werden, hängt von der Bilanzstärke eines Unternehmens und dem Tempo seiner Erholung ab. Diese Faktoren werden mittel- bis langfristig die Entwicklung der Aktienkurse bestimmen.
Und dann wären da noch die Dividenden. Viele Unternehmen und insbesondere Banken sowie Finanzdienstleister haben ihre Gewinnausschüttungen gekürzt oder verschoben. Ausschlaggebend hierfür waren jedoch häufig entsprechende Forderungen der Politik und Regulierungsbehörden und weniger die wirtschaftliche Entwicklung oder die Aussichten einzelner Unternehmen.
Die Dividendenkürzungen könnten zwar erheblich sein, haben aber unseres Erachtens mit den Fundamentaldaten vieler Unternehmen nur wenig zu tun. Wir erwarten daher im nächsten Jahr einen deutlichen Wiederanstieg der Dividenden, selbst wenn sich die Wirtschaft nur langsam erholen sollte. Auch wenn wir vermutlich noch einige Volatilitätsausbrüche sehen werden: Die Märkte scheinen für die meisten Sektoren und Unternehmen nicht länger ein Worst-Case-Szenario einzupreisen. Vielmehr gehen sie langsam, aber sicher von einer Erholung der Endverbrauchermärkte aus.
Zurückblicken, um nach vorne zuschauen
Wie stellt sich die Lage längerfristig dar? Um diese Frage zu beantworten, hilft ein Blick zurück. In Europa erlitten die Märkte in einem typischen Bärenmarkt Verluste von etwa 42%. In diesem Jahr summiert sich die Talfahrt vom höchsten bis zum tiefsten Punkt auf 35%, während es in der Finanzkrise 57% waren.
Wichtiger ist jedoch, dass die jüngste Bärenmarktrally eine der stärksten in der Geschichte der Märkte war und deutlich über dem Durchschnitt liegt. Natürlich kann man diese Rally kleinreden. Aber wir halten sie für bemerkenswert, könnte sie doch auf einen Stimmungsumschwung bei Anlegern hinweisen, der nachhaltiger ausfallen könnte, als manche erwarten.
Was bedeutet das für Anleger?
Auch wenn zweifellos noch Herausforderungen vor uns liegen, schätzen wir den Ausblick für Europa nach wie vor positiv ein. Diese Einschätzung beruht auf einem selektiven Ansatz angesichts des Potenzials, das wir bei einzelnen Unternehmen sehen, und nicht auf einer pauschal günstigen Prognose für die Region als Ganzes. Schließlich hat sich Europa auch schon vor dem Ausbruch des Lungenvirus mit hausgemachten Problemen konfrontiert gesehen, die sich nicht über Nacht in Luft auflösen werden.
Wir sind daher überzeugt, dass sich die besten Anlagechancen in Europa nur durch einen aktiven Anlageansatz aufspüren lassen. Wer richtig hinschaut, findet viele gute Unternehmen, die in den Bereichen Technologie, Marken-Konsumgüter, Gesundheit usw. erfolgreich sind. Daneben sehen wir im Finanz- und im Industriesektor vereinzelt interessante Möglichkeiten. Europa ist zudem weiterhin beim Thema Umwelt, Soziales und Governance (ESG) führend. Diese Faktoren werden in einer unsicheren Welt immer wichtiger und gewinnen für den wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen erheblich an Bedeutung.
Abschließende Erwägungen ...
Die Corona-Krise ist mit nichts zu vergleichen, was wir bisher erlebt haben, und wird in allen Bereichen einen erheblichen Tribut fordern. Dennoch sehen wir langsam Licht am Ende des Tunnels. Auch die Märkte scheinen das Schlimmste überstanden zu haben. Für Anleger, die sich auf einzelne Unternehmen konzentrieren und bereit sind, über die unvermeidliche Volatilität der Corona-Krise hinauszuschauen, könnte jetzt ein guter Zeitpunkt sein, ihr Geld wieder für sich arbeiten zu lassen.
Ben Ritchie, Head of European Equities bei Aberdeen Standard Investments