Kein Blick zurück im Zorn
Bevor wir uns dieser Frage widmen, blicken wir zunächst zurück. Insgesamt hatte das Jahr 2020 recht stark begonnen. Es wurde ein angemessenes Wachstum verzeichnet, die Bewertungen lagen auf fairen Niveaus, und mit Blick auf Renditeanlagen fielen die Dividenden nach wie vor attraktiv aus. Ironischerweise gab es vor der jüngsten Berichtssaison sogar Anzeichen dafür, dass die Unternehmen weiterhin großzügige Cash-Ausschüttungen vornehmen würden (Dividenden, Sonderdividenden und Aktienrückkäufe).
Zunehmende Sorgen bereitete uns allerdings die Tatsache, dass der längste Konjunkturzyklus seit Anlegergedenken mittlerweile ein fortgeschrittenes Stadium erreicht hatte, weshalb wir nicht dieselben Markterträge erwarteten wie 2019. Zudem fanden wir die Renditejagd um jedem Preis sowie die Zweiteilung des Marktes in Qualität und Substanz zunehmend bedenklich.
Dann schlug das Coronavirus zu – war das das Zyklusende?
Seltsame neue Welt
Die Tiefe und Schwere der Marktkorrektur waren für viele Beobachter überraschend und zogen rasche Reaktionen nach sich. In der einen Woche besagte der allgemeine Konsens noch, dass sich die Einkaufmanagerindizes stabilisieren (wenn nicht sogar verbessern) und die Aktienrisikoprämien sinken würden (die Analysten mussten die Bewertungskennzahlen irgendwie rechtfertigen). Schon in der nächsten Woche wurde dann alles wieder zurückgenommen, und die meisten Analysten hielten die Aktienrisikoprämien für zu niedrig.
Zwischenzeitlich waren die Bewertungskennzahlen schon fast bedeutungslos, da die Aktienkurse an einem Tag um 5–10% (nach oben und nach unten) schwankten. Die Anleger stellten vorsichtige Mutmaßungen an, wie Erträge und Gewinne in einem Monat, einem Quartal oder in einem Jahr ausfallen könnten.
Für ertragsorientierte Anleger warf der Ausverkauf eine Reihe zusätzlicher Fragen auf – von denen einige Herausforderungen, andere dagegen Chancen bergen.
Nachfrageschock
Die Marktreaktion auf den Nachfrageschock bedeutet einige harte Monate für Dividenden-Aktien. Verantwortlich war unseres Erachtens zu einem großen Teil die Mentalität der Marktbeobachter und Hedgefondsmanager, die nach dem Motto „erst verkaufen, dann nachdenken“ gehandelt haben, anstatt eine genaue Analyse der zugrundeliegenden Ereignisse anzustreben. Somit stürzten auch Unternehmen, die Cashflows generieren und über solide Bilanzen verfügen, gemeinsam mit den Märkten ab. Folglich wurden auch jene Unternehmen, die eigentlich in der Lage sein sollten, entlang des gesamten Zyklus attraktive absolute Dividenden zu erzielen, durch die sich beschleunigenden Käufe in Mitleidenschaft gezogen.
Staatliche Hilfen
Als „Gegenleistung“ für Staatshilfen haben die Politiker „vorgeschlagen“, dass die Unternehmen auf Dividendenauszahlungen verzichten sollen. Demnach dürften einige zuvor angekündigte Sonderdividenden abgesagt werden (z. B. Volvo). Allerdings könnte dies in manchen Fällen, je nach Dauer der Krise, auch dazu führen, dass die Auszahlung lediglich verschoben wird und nicht vollständig entfällt. Schließlich haben die Unternehmen die fraglichen Dividenden größtenteils im Jahr 2019 erwirtschaftet. Dies birgt wiederum Chancen für aktive Anleger.
Bankdividenden
Die Europäische Zentralbank hat die Kreditinstitute angewiesen, bis mindestens Oktober 2020 keine Dividenden auszuschütten. Schließlich sollen die Banken verstärkt Kapital für die Risikovorsorge und die Kreditvergabe nach der Krise zurückhalten. Jedoch bleibt offen, ob diese Vorgabe bedeutet, dass die Dividenden für dieses Jahr lediglich aufgeschoben oder vollständig aufgehoben werden.
Dieses Risiko wurde durch den Markt schnell auch auf andere Sektoren übertragen. Wir halten dies aber nicht unbedingt für gerechtfertigt und erkennen derzeit für geduldige Anleger einige unterbewertete Anlagechancen mit Dividendenpotenzial.
Chancen in Europa
Zu den Vorteilen einer Anlage in Europa gehören die Tiefe und Breite des dortigen Marktes. Anleger können somit ihre Ertragschancen diversifizieren und hängen nicht von einigen wenigen Unternehmen oder Sektoren ab. Natürlich war auch Europa gegen den Ausverkauf nicht immun. Allerdings konzentrierten sich die Anleger dabei auf Unternehmen, deren Dividende relativ hoch ausfiel und daher vermeintlich stärker in Gefahr war. So einfach ist es jedoch nicht. Es gibt einige renditeschwache (Wachstums-)Unternehmen, die ihre Dividenden gesenkt haben, als dies – zumindest auf den ersten Blick – aufgrund ihrer vermeintlich robusten Geschäftsmodelle und ihres Cashflow nicht notwendig war. Vielleicht zeigt sich jetzt, wer auf tönernen Füßen steht.
Einige zuvor unbeliebte Sektoren steigen nun wieder in der Anlegergunst, so z.B. der Telekomsektor. Galt dieser zuvor als wachstumsschwache, viel geschmähte Branche, dürften nun viele Telekomunternehmen von der zunehmenden Home-Office-Arbeit profitieren – wodurch sie künftig etwas Preissetzungsmacht dazugewinnen könnten.
Gleichzeitig gerieten einige bis vor Kurzem favorisierte dividendenstarke Sektoren, wie beispielsweise die Versorger, Im Zuge des Markteinbruchs unter Druck. Dennoch dürften sich die meisten Unternehmen als relativ immun gegen Covid-19 erweisen, denn der Trend zu einer „Dekarbonisierung“ der Welt befindet sich in vollem Gange und dürfte sich nicht verlangsamen. Wir erwarten daher, dass sich die neu gefundene Wachstumsdynamik des Sektors in Kürze fortsetzen wird.
Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich
Die Covid-19-Krise birgt dieselben Herausforderungen wie frühere „Schwarze Schwäne“ – wenngleich in etwas anderer Form. Es ist unmöglich einzuschätzen, wie lange sie dauern wird und welches die bleibenden Folgen für Wirtschaft, Unternehmen und Gesellschaft sein werden.
In den letzten drei bis vier Jahren haben die Anleger immer wieder eine fiskalische Lockerung gefordert. Nun – da ihr Wunsch endlich erfüllt wird – ist zu hoffen, dass nicht alle Mittel dafür gebraucht werden, die Volkswirtschaften zu retten, sondern dass auch noch etwas übrig bleiben wird, um das Wachstum und die Profitabilität der Unternehmen zu steigern. Wahrscheinlich wird die tatsächliche Entwicklung irgendwo in der Mitte liegen. Als Folge werden die Starken stärker werden, während es die schwachen Unternehmen und Geschäftsmodelle möglicherweise nicht schaffen werden.
Als Anleger müssen wir indes aktiv und aufmerksam bleiben, um Abwärtsrisiken zu erkennen und Aufwärtspotenzial zu nutzen. Wenn uns dies gelingt, sind wir davon überzeugt, dass sich uns gute Chancen bieten werden – und dass Aktiendividenden weiterhin ein zentrale Ertragskomponente bleiben werden, während wir in diesen unsicheren Zeiten unseren Weg finden.
Meet the Mager – 30 Minuten mit ...
Ben Ritchie, Head of European Equities und Jonathan Allison, Investment Director, zum Aberdeen Standard SICAV I - European Equity Fund. Die beiden Fondsmanager geben ein Update zum Fonds und werden ihren Ausblick zu europäischen Aktien vorstellen.