Eine Welle von Versprechungen
Eine wachsende Zahl an Ländern, Städten und Unternehmen hat sich Klimaneutralität bis 2050 auf die Fahnen geschrieben, um die im Rahmen des Übereinkommens von Paris formulierten Ziele zu erreichen. Schätzungen zufolge beziehen sich diese Versprechen zusammen auf rund 25% der weltweiten Emissionen und 50% der globalen Wirtschaftstätigkeit.
Warum Netto- und nicht absolute Null-Emissionen?
In einigen Sektoren stehen kostengünstige Technologien zur Verringerung der Treibhausgasemissionen auf Null durch Elektrifizierung zur Verfügung. In Branchen wie Luftfahrt, Baustoffe und Landwirtschaft gestaltet sich die Reduzierung der Emissionen auf Null aufgrund technischer Gegebenheiten hingegen schwierig, unmöglich oder unverhältnismäßig teuer, sodass Restemissionen nicht vermieden werden können.
Im Rahmen des Konzepts der Netto-Null-Emissionen müssen diese Restemissionen durch Negativemissionstechnologien, darunter Kohlenstoffabscheidung und -speicherung, oder natürliche Kohlenstoffsenken wie Wälder aus der Atmosphäre beseitigt werden. Allerdings sind viele Negativemissionstechnologien derzeit nicht für den großflächigen Einsatz ausgelegt, sodass die Versprechen der Unternehmen von Netto-Null-Emissionen eher auf künftige Absichten hindeuten. Dies macht es schwierig, die Unternehmen in Bezug auf die Emissionsreduzierungen zur Rechenschaft zu ziehen.
Darüber hinaus hängt der Umfang der zur Erreichung der Ziele des Übereinkommens von Paris benötigten Negativemissionen vom gewählten Klimawandelszenario sowie den Annahmen zu politischen und technologischen Entwicklungen ab. Somit besteht enorme Unsicherheit darüber, wie genau Klimaneutralität erreicht werden könnte.
Sind die Versprechen der Unternehmen glaubwürdig?
Anleger können sich drei Fragen stellen, um herauszufinden, ob die Netto-Null-Versprechen tatsächlich aussagekräftig sind.
1. Umfang?
Die meisten Unternehmen versprechen Netto-Null-Werte bei ihren Scope-1- und Scope-2-Emissionen, d.h. den direkten Emissionen aus ihrer Geschäftstätigkeit und ihrem Energieverbrauch. Es müssen aber auch die Scope-3-Emissionen berücksichtigt werden. Darunter fallen die vorgelagerten Emissionen in der Lieferkette sowie die nachgelagerten Emissionen der verkauften Produkte. In Sektoren wie Öl und Gas, Automobile sowie Finanzdienstleistungen entfällt der Großteil der Emissionen auf Scope 3. Und diese können einen erheblichen Anteil haben. In der Öl- und Gasbranche beläuft sich dieser beispielsweise auf 85%. Die Unternehmen haben keine direkte Kontrolle über diese Emissionen und verlassen sich weitgehend auf die politischen Entscheidungsträger, die richtigen Anreize zur Reduzierung zu setzen.
2. Welche Emissionsreduzierungen werden tatsächlich im Vergleich zu den Zielwerten erreicht?
Netto Null bedeutet, dass etwaige Restemissionen ausgeglichen werden können. Doch in welchem Umfang ist ein Ausgleich akzeptabel?
Einige Unternehmen gleichen ihre Emissionen durch freiwillige Kompensationsprogramme aus. Tatsächlich ist der Markt für freiwilligen Kohlenstoffausgleich zwischen 2017 und 2018 um über das Doppelte angewachsen. Glaubwürdigkeit ist dabei von entscheidender Bedeutung: sämtliche Ausgleichsprogramme müssen spezifische Anforderungen erfüllen, um von Dritten verifiziert werden zu können.
Ein Problem dabei ist, dass es derzeit deutlich günstiger ist, Emissionen auszugleichen anstatt Investitionen in nachhaltige langfristige Lösungen zu tätigen, welche die CO2-Emissionen tatsächlich verringern. 2018 belief sich der Durchschnittspreis für freiwillige Kompensationen auf 3 USD pro Tonne Kohlenstoffdioxid (CO2) und lag damit deutlich unterhalb des vom Internationalen Währungsfonds empfohlenen und mit dem Übereinkommen von Paris in Einklang stehenden Preis von 75 USD. Der erwartete Anstieg der Nachfrage nach Ausgleichen dürfte den Preis aber letzten Endes in Richtung des mit dem Übereinkommen von Paris konformen, optimalen Wert bewegen.
Beispielsweise kündigte EasyJet 2019 an, seine Flugzeugemissionen über drei Jahre hinweg mit 25 Mio. GBP pro Jahr ausgleichen zu wollen. Dies entspricht 3 GBP pro Tonne CO2 – eine günstige Lösung. Obschon dies zweifelsohne besser ist als nichts, stellt sich dennoch die Frage, ob die 25 Mio. GBP nicht hätten wirksamer zum Vorantreiben der Dekarbonisierungslösungen für die Branchen eingesetzt werden können.
Ein weiteres Problem besteht darin, dass rund 60% aller Kompensationsprogramme Landflächen benötigen. Schätzungen von Shell zufolge müsste für den Energiesektor allein eine Fläche von etwa der Größe Brasiliens wieder aufgeforstet werden, um bis 2070 Klimaneutralität zu erreichen. Dies hat auch soziale Implikationen, da unter Umständen Menschen umgesiedelt werden müssen, um eine Bepflanzung in derart großem Maßstab zu ermöglichen.
Der Kohlenstoffausgleich stellt somit eindeutig keine tragfähige, skalierbare, langfristige Lösung dar und sollte lediglich zusätzlich zu und nicht anstelle von substantiellen Reduzierungen in Erwägung gezogen werden.
3. Spiegeln sich die Versprechen in der aktuellen Tätigkeit wider?
Um glaubwürdig zu sein, müssen langfristige Versprechen in kurzfristigen Zielen, Investitionen, Forschungs- und Entwicklungsplänen sowie der Vergütung zum Ausdruck kommen. Ansonsten sind sie nichts wert.
Untersuchungen von Carbon Tracker, einer Denkfabrik für den Energiesektor, legen nahe, dass die größten westlichen Öl- und Gasunternehmen zwischen 2018 und September 2019 Investitionen in Höhe von schätzungsweise 50 Mrd. USD abgesegnet haben, die nicht in Einklang mit dem Übereinkommen von Paris stehen. Die Wahl des Klimaszenarios spielt bei der Zielsetzung eine große Rolle. Beispielsweise könnten Öl- und Gasunternehmen bei Festlegung ihrer Klimaziele von einem umfangreichen Einsatz von Negativemissionstechnologien und einem späten Spitzenverbrauch bei fossilen Brennstoffen ausgehen, was zur Rechtfertigung der anhaltenden Investitionen in fossile Brennstoffe beitragen würde.
Aktive Anleger spielen eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, die Ausrichtung von Projekten an den Netto-Null-Versprechen zu prüfen, indem sie hinterfragen, inwiefern die Zielwerte bei Investitionsentscheidungen berücksichtigt worden sind. Es ist unerlässlich, dass Unternehmen aufzeigen, wie sich ihre Netto-Null-Zielsetzungen auf tatsächliche Emissionsreduzierungen (Scope 1, 2 und 3) im Vergleich zu Negativemissionen (einschließlich des Anteils freiwilliger Kompensationsprogramme) aufteilen. Und, was ebenso entscheidend ist, inwieweit ihre Investitionspläne mit diesen Zielen vereinbar sind.
Was bedeutet dies für Anleger?
Die jüngste Welle an Netto-Null-Zusagen ist zwar ebenso wie die zunehmende Integration von Scope-3-Emissionen in die Zielvorgaben ermutigend. Gleichwohl müssen mehr Einzelheiten zu den langfristigen Versprechen der Unternehmen und deren Berücksichtigung bei den heutigen Investitionsplänen gefordert werden. Der Ausgleich von Emissionen zu günstigen Preisen, die Begrenzung des Umfangs der Zielvorgaben oder die Auswahl von Klimaszenarien, welche die aktuellen Investitionsentscheidungen untermauern, bringen uns im Hinblick auf eine Dekarbonisierung der Wirtschaft nicht weit.
Anleger, die bei Unternehmen mit leeren Versprechungen engagiert sind, sehen sich dem Risiko gestrandeter Vermögenswerte sowie CO2- und Reputationsrisiken gegenüber. Zusammen mit den unzureichenden Zusagen der Länder besteht das größte Risiko leerer Versprechen in den Auswirkungen auf unseren Planten und auf künftige Generationen. All diese Versprechen vermitteln den Eindruck, dass deutlich mehr bewerkstelligt wird, als dies tatsächlich der Fall ist. Doch die globale Erderwärmung lässt sich nicht ohne glaubwürdige Maßnahmenpläne eindämmen. Und wenn wir der Ansicht sind, dass die Pläne unglaubwürdig sind, dann müssen wir die Unternehmen mittels aktiven Engagements- und Stimmrechtsaktivitäten zur Rechenschaft ziehen.
Eva Cairns, Senior ESG Investment Analyst, Aberdeen Standard Investments