Ein radikaler Vorschlag
Abe übernahm das Amt 2012 und versprach umfassende Reformen, nachdem ein verheerender Tsunami ein Jahr zuvor Japan erschüttert und den notwendigen Wandel ganz oben auf die Agenda katapultiert hatte. Schnell prägten die Märkte einen neuen Begriff für Abes Strategie zur Wiederbelebung der Wirtschaft: „Abenomics“. Im Kern dieses radikalen Vorschlags standen drei Ziele, auch „Pfeile“ genannt:
- Antreiben der Inflation mit Hilfe der Geldpolitik;
- „Flexibler“ Einsatz fiskalischer Hebel zum Ankurbeln des Wachstums ergänzend zur Geldpolitik – ohne dabei freilich die Staatsverschuldung aus dem Auge zu verlieren;
- Anschieben des Potenzialwachstums durch Reformen.
Die Bank of Japan (BoJ) zögerte nicht und handelte entschlossen. Ihre Anleihenkäufe waren im Verhältnis zur Größe der Wirtschaft die umfangreichsten, die jemals getätigt wurden. Sie stellten selbst das dritte quantitative Lockerungsprogramm der US Federal Reserve in den Schatten. Die Zinsen wurden in den Minusbereich gedrückt, gefolgt von Direktmaßnahmen, um die Renditen niedrig zu halten. Das hatte durchschlagende Wirkung auf die Vermögenspreise, auch wenn es nur zum Teil gelang, die Inflation dauerhaft zu erhöhen. Mit ihren Maßnahmen mag die BoJ zwar die leichte Deflation, die Japan über Jahre plagte, verbannt zu haben. Ein Preisauftrieb von 2 % scheint aber nach wie vor in weiter Ferne.
Dass ein Antreiben der Inflation schwierig sein würde, war klar. Vermutlich wäre man erfolgreicher gewesen, hätten die anderen beiden „Pfeile“ ins Schwarze getroffen. Zunächst war die Fiskalpolitik durchaus eine Stütze. Aber ihre „Flexibilität“ war auch ihre zentrale Schwachstelle, bedeutete sie doch, dass stets eine Anpassung im Gange war. Dies hatte nichts mehr mit der versprochenen Flexibilität zu tun. Als schwere Belastungsprobe erwies sich die zweifache Erhöhung der Mehrwertsteuer 2014 und 2019.
Einige Strukturreformen wurden durchgedrückt, was nicht zuletzt der Hartnäckigkeit von Kabinettschef Yoshihide Suga zu verdanken war. Zu den herausragenden Erfolgen der Regierung unter Abe gehören unseres Erachtens:
- bessere Standards der Unternehmensführung;
- stärkere Erwerbsbeteiligung von Frauen (im Haupterwerbsalter ist sie inzwischen höher als in den USA);
- Schaffung des Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership (CPTPP), eines Freihandelsabkommens, mit dem die Beziehungen zu elf anderen Pazifik-Anrainerstaaten vertieft wurden.
Aber es wurde nie wirklich klar, ob Abe mit seiner Politik fundamentale Veränderungen ergänzend zur Inflation anstrebte. Etwa die Anhebung des Anteils des Einkommens, das an die privaten Haushalte fließt, um darüber die Hindernisse für ein stärkeres Lohnwachstum zu überwinden.
Wie wird es nach Abe weitergehen?
Mit der plötzlichen Rücktrittsankündigung hat die Frage von Abes Nachfolge eine neue Dynamik entwickelt und verleiht den Mitgliedern des Kokkai mehr Macht als den Präfekturkapiteln (394 Mitglieder des Kokkai und 141 Delegierte aus den Präfekturkapiteln werden über den nächsten Premier bestimmen). Das dürfte die Position von Suga stärken, der von den größten Gruppierungen innerhalb der regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP) unterstützt wird.
Suga wäre ein Kandidat, der für Kontinuität steht. Aber über seine politischen Ansichten ist wenig bekannt. Da er jedoch umfassend in die Umsetzung der Abenomics eingebunden war, scheint ein drastischer Kurswechsel unter seiner Führung eher unwahrscheinlich. Einige spekulieren, dass Suga lediglich die Position eines Übergangspremiers bis zu den nächsten Parlamentswahlen anstrebt.
Abe könnte die Rolle des Königsmachers spielen – ein Grund, warum Suga klarer Favorit ist. Vor der Abstimmung kann indes noch viel passieren. Auch Shigeru Ishiba, der frühere Verteidigungsminister, oder Fumio Kishida, ehemals Außenminister, könnten ihren Hut in den Ring werfen. Weder Ishiba noch Kishida scheinen eine radikal andere Wirtschaftspolitik anzustreben. Letzterer würde sich jedoch vermutlich stärker für Sozialprogramme einsetzen.
Suga und Ishiba werden wohl die Änderung von Artikel 9 der Verfassung weiter vorantreiben. In seiner jetzigen Form verbietet dieser Japan, Streitkräfte zu besitzen. Kishida scheint diesem Thema keine hohe Priorität einzuräumen und wird es kaum weiter verfolgen, es sei denn auf Druck der LDP. Eine Änderung dieses Verfassungsartikels könnte die diplomatischen Beziehungen zu China und Korea belasten. Wie angespannt diese sind, wird das nächste jährliche Gipfeltreffen Japans mit diesen beiden Nachbarländern zeigen. Durch seine Erfahrung als Diplomat ist Kishida möglicherweise mit Blick auf die Außenpolitik im Vorteil. Aber allen drei Kandidaten könnte es schwerfallen, die Art von Beziehung zu US-Präsident Donald Trump aufzubauen, die Abe hatte.
Wer auch immer das Amt des Premiers übernimmt, wird vor erheblichen Herausforderungen im Gefolge der Corona-Pandemie stehen. Ob der von ihr ausgehende Schock den Wandel in ähnlicher Weise vorantreiben wird wie der Tsunami, der Abe an die Macht brachte, bleibt abzuwarten. Ein Impfstoff (weder aus China noch aus Russland) könnte Japans Wirtschaft im nächsten Jahr wieder richtig ins Laufen bringen. Mit dem Nachlassen des ökonomischen Schocks wird aber möglicherweise auch die Reformdynamik erlahmen.
Etwas ungewöhnlich an Abe war seine starke Position innerhalb der LDP. Sie gab ihm freiere Hand bei seinen Vorhaben als vielen japanischen Premierministern vor ihm. Dennoch gab es auch für ihn Fraktionszwänge und die Notwendigkeit zu Kompromissen, die seine Entscheidungen beeinflusst haben. Das erklärt, warum selbst er nicht in der Lage war, das anfängliche Versprechen umfangreicher Strukturreformen einzulösen. Dem nächsten Regierungschef wird man wohl kaum den gleichen Freiraum geben wie Abe. Nicht zuletzt deshalb, weil dieser selbst hinter den Kulissen weiter die Fäden ziehen könnte.
Unter dem Strich ist daher wahrscheinlich, dass der Status quo im Großen und Ganzen beibehalten und sich die Tendenz zu zurückhaltendem Reformieren verstärken wird. Abenomics war der Versuch, einen echten Wandel zu bewirken. Man kann daher mit Fug und Recht sagen, dass die Fortführung der aktuellen Politik dennoch das Ende einer Ära bedeutet.
Robert Gilhooly, Senior Research Economist, Aberdeen Standard Investments