Der Verlauf einer nachhaltigen Erholung des Weltwirtschaftswachstums hängt von der erfolgreichen Bereitstellung von Corona-Impfstoffen ab. Dadurch bieten sich für die Anleger Gelegenheiten, Bewertungslücken auszunutzen, bevor der Markt die Erholung einpreist.
Wir gehen davon aus, dass die Weltwirtschaft im 2. Quartal 2021 anzieht. Eine Erholung dürfte aber bis zum 2. Halbjahr auf sich warten lassen, da die Zulassung, Produktion und Verteilung der Impfstoffe einige Zeit in Anspruch nehmen wird.
Je mehr Impfungen verabreicht werden können, desto schneller wird die Normalisierung des Wachstums vonstattengehen. Dennoch werden die Behörden Verzögerungen bei der Auslieferung von Impfstoffen mit angemessenen geld- und fiskalpolitischen Unterstützungsmaßnahmen überbrücken müssen.
Wir gehen zwar davon aus, dass die USA ein unabhängiges Beratergremium einrichten und bis zum 1. Januar 2021 Notfallzulassungen für erprobte Impfstoffe erteilen werden, doch einige Länder werden die Massenimpfungen vorsichtiger angehen, weshalb sich die Erholung des globalen Wachstums bis zum 2. Halbjahr verzögern dürfte.
China verfügt zwar über Produktionskapazitäten, um bis Ende 2021 750 Millionen Impfdosen herzustellen1. Allerdings hat das Land 1,4 Milliarden Einwohner und Vereinbarungen mit anderen Ländern wie Brasilien und Indonesien über Impfstofflieferungen getroffen, sodass sich die Impfungen sicherlich bis ins Jahr 2022 hinziehen werden.
Wir vermuten, dass Covid-19 ähnlich wie die Grippe endemisch und nie endgültig ausgerottet sein wird. Da die Impfstoffe laut aktueller Studien höchstens zwei Jahre Immunität bieten, müssen die Impfungen aufgefrischt werden.
Die Aktienmärkte haben zwar positiv auf die Nachrichten der Impfstoffsituation reagiert, aber eine Erholung des globalen Wachstums haben die Anleger noch nicht vollständig eingepreist. Sollte sich das Wachstum normalisieren, dürften sich ausgewählte Aktienmärkte, Währungen und Rohstoffpreise analog zum Anziehen der Industrieproduktion erholen.
Die Aktienmärkte haben zwar positiv auf die Nachrichten der Impfstoffsituation reagiert, aber eine Erholung des globalen Wachstums haben die Anleger noch nicht vollständig eingepreist.
In Japan, Australien, Europa und Großbritannien erscheinen Aktien angesichts ihrer nach oben korrigierten Gewinnprognosen attraktiv bewertet. Allerdings preisen die Märkte diese Gewinnerholung noch nicht vollständig ein, wodurch Bewertungslücken entstanden sind, die Anlagechancen bieten.
Gemessen am Kurs-Gewinn-Verhältnis erscheinen die Bewertungen der Weltaktienmärkte im historischen Vergleich zwar überzogen, dies ist jedoch weitgehend dem pandemiebedingten Gewinneinbruch geschuldet. Verglichen mit Anleihen bewegen sich Aktien nach wie vor im Bereich ihres fairen Werts, d. h. Anleger können noch immer relatives Wertpotenzial finden, vor allem da eine Erholung der Gewinne die Bewertungen stützen würde.
Die wichtigsten Risiken für die von uns erwartete Erholung im 2. Halbjahr 2021 sind ein schwächeres Wachstumstempo als von uns prognostiziert, möglicherweise aufgrund von Verzögerungen bei der Impfstoffverteilung oder den Impfungen, erneute geopolitische Spannungen, wenn der designierte US-Präsident Biden in den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit durchsetzungsfähiger sein sollte als von uns angenommen, was für Volatilität sorgen könnte, ehe ein Wachstum einsetzt, und die Möglichkeit eines „Taper Tantrums“ im Rahmen der Normalisierung der Weltwirtschaftsaktivität, d. h. einer panischen Reaktion der Märkte auf die Ankündigung eines möglichen Ausstiegs aus der lockeren Geldpolitik.
Hinzu kommt, dass die meisten neu gewählten US-Präsidenten einen neuen Notenbankchef ernannt haben. Zwar endet die Amtszeit des Fed-Vorsitzenden Jerome Powell erst im Februar 2022, Hinweise auf eine mögliche Ablösung würden jedoch bereits 2021 diskutiert werden. Dadurch könnte es zu einem Kurswechsel in der Geldpolitik und bezüglich der Stimulierung kommen, was die Märkte unvorbereitet treffen könnte.
Sektorrotation
Eine Erholung des globalen Wachstums dürfte substanzwertlastigen Aktienmärkten etwa in Europa, Australien und Japan zugutekommen. An diesen Märkten sind Finanz-, Industrie- und Immobilienwerte besonders stark vertreten – Sektoren, die während der Pandemie ins Hintertreffen geraten sind und von einem Anziehen des Handels profitieren würden.
Auch der Energiesektor dürfte sich im Laufe der Zeit erholen. Doch angesichts des weltweiten Anstiegs der Ölreserven nach dem Preiseinbruch Anfang dieses Jahres sind die Lagerbestände hoch. Da sie erst abgebaut werden müssen, dürfte es einige Zeit dauern, bis die Nachfrage das Angebot übersteigt.
Ferner rechnen wir mit einer weiteren Korrektur bei Kommunikationsdiensten und Technologieaktien, deren Performance in der Coronakrise beflügelt wurde, denen es aber an langfristiger struktureller Unterstützung und Impulsgebern mangelt. Außerdem dürfte es zu einigen Umschichtungen in unterbewertete zyklische Sektoren kommen, die auf eine Wiederbelebung der inländischen Wirtschaftsaktivität ausgerichtet sind. Davon könnten die Märkte der Vereinigung südostasiatischer Staaten (ASEAN) profitieren, von denen einige auch stark vom Welthandelszyklus abhängen. Diese Länder verfügen über starke Leistungsbilanzen, und an ihren Märkten sind internationale Anleger unterrepräsentiert.
Der US-Dollar dürfte sich unseres Erachtens abschwächen. Das Ergebnis der Stichwahl in Georgia wird die endgültige Zusammensetzung des US-Kongresses bestimmen. Wir messen der Möglichkeit, dass die Republikaner die Mehrheit im Senat gewinnen, eine Wahrscheinlichkeit von 70% bei. Dies würde eine wirksame fiskalpolitische Beschlussfassung erschweren und Biden könnte Schwierigkeiten haben, seine Ausgabepläne und andere Gesetzesvorhaben durchzusetzen.
Wir gehen zwar davon aus, dass der Gesetzesentwurf für kurzfristige Corona-Hilfen Anfang 2021 verabschiedet wird, ein moderater Stimulus von 1 Bio. USD oder weniger könnte jedoch nicht ausreichen, um das US-Wachstum zu stützen. Die US-Geldpolitik wird äußerst entgegenkommend bleiben müssen, sodass die Wachstums- und Inflationsunterschiede zwischen den USA und den Ländern Asiens und Europas zunehmen und der US-Dollar dadurch unter Druck geraten dürfte.
Eine Dollarschwäche würde asiatische Währungen und Schwellenländerwährungen sowie nicht auf US-Dollar lautende Anlagen begünstigen. Wir rechnen auch mit einer Erholung des Euro, sofern die Pandemie nicht stärker außer Kontrolle gerät.
Die Märkte preisen bis 2025 keine Zinserhöhungen der US Federal Reserve ein, was dafür spricht, dass das kurze Ende der Zinskurve flach und die Kreditspreads niedrig bleiben. Dadurch müssen Anleger bei ihrer Renditesuche in schwächere Bonitäten ausweichen.
Bei festverzinslichen Anlagen bevorzugen wir Unternehmensanleihen aus den Schwellenländern. Das Segment ist in der Vergangenheit nach Markteinbrüchen über 2%2 gestiegen. Unternehmensanleihen aus Schwellenländern weisen höhere Renditen und eine niedrigere Verschuldung als vergleichbare Titel aus den Industrieländern auf und ein schwacher Dollar wäre der Anlageklasse im Jahr 2021 zuträglich.
Bei alternativen Anlagen schätzen wir die Aussichten für Immobilien in einem von einer Normalisierung der Wirtschaftsaktivität geprägten Umfeld positiv ein. Angesichts der Rückkehr zur Produktivität in den Industrie- und Schwellenländern dürften die Leerstandsraten sinken und die Vermietungen von Büroflächen wieder zunehmen.
Die Aussichten für den Infrastruktursektor beurteilen wir aufgrund der staatlichen Hilfsgelder ebenfalls positiv. Viele Regierungen haben sich ambitioniertere ökologische und soziale Ziele gesetzt, die einer erneuerbaren und sozialen Infrastruktur langfristig Auftrieb verleiht.
Dieser Sektor bietet den Anlegern diversifizierte Ertragsflüsse mit Anfangsrenditen, die über den Zinssätzen der Industrieländer liegen, und zusätzlichem Renditepotenzial, das einen Puffer gegen einen Inflationsanstieg bietet, der an Mautgebühren und die Tarife für Versorgungsleistungen gekoppelt ist.
Im Mezzanine-Segment von Asset-Backed Securities (ABS) machen wir ebenfalls attraktive Bewertungen aus. Bei ABS hat sich die Unterstützung durch die Zentralbanken nicht in gleichem Maße wie bei anderen Anlageklassen bemerkbar gemacht. Anleger erhalten daher einen ansehnlichen Renditeaufschlag gegenüber festverzinslichen Anlagen bei ähnlichem Kreditrisiko.
Irene Goh, Head of Multi-asset Solutions, Asia Pacific, Aberdeen Standard Investments
1 Aberdeen Standard Investments Research Institute, August 2020
2 JPM DataQuery, Januar 2002 – März 2020