Ausblick für europäische Aktien: Vor diesen "Ungeheuern" warnt abrdn

abrdn | 11.01.2022 14:39 Uhr
© Photo by Maximilian Weisbecker on Unsplash
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Archiv-Beitrag: Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

In der griechischen Mythologie sieht sich Odysseus mit der Entscheidung konfrontiert, sein Schiff entweder an Skylla, einem sechsköpfigen Seeungeheuer, oder an Charybdis, einer in einem Strudel lebenden Kreatur, vorbeizulenken. Der Erzählung von Homer zufolge riet die Zauberin Kirke Odysseus an Skylla vorbeizusegeln und sechs Seeleute an das Ungeheuer zu verlieren (einen für jeden Kopf), anstatt zu riskieren, dass seine gesamte Besatzung Charybdis zum Opfer fällt. Glücklicherweise gestaltet sich die Kursplanung für 2022 und darüber hinaus nicht ganz so tückisch – wenngleich der Höhenflug des Aktienmarktes im Jahr 2021 zweifelsohne über eine Reihe komplexerer, zugrunde liegender Strömungen hinwegtäuscht.

Raue See voraus?

Die Erholung der Eurozone in diesem Jahr fiel überraschend stark aus. Die Aufhebung der Lockdowns im Frühjahr sorgte für einen rasanten Nachfrageaufschwung, der sich in den Sommermonaten weiter beschleunigte. Mittlerweile gestaltet sich der Ausblick jedoch komplizierter. Die wirtschaftliche Aktivität nähert sich wieder den vor der Pandemie verzeichneten Niveaus. Der mechanische Boost infolge der Wiedereröffnung lässt nach. Auch die Erholung bekommt Gegenwind zu spüren. Angebotsengpässe belasten die Aktivität, während die höhere Inflation eine Gefahr für den Konsum und die Rentabilität der Unternehmen darstellt. Zudem bereitet das Aufkommen der Omikron-Variante des Covid-19-Virus Sorgenpunkt. 

Die Lage in China trübt den Ausblick zusätzlich ein. Das chinesische BIP, das einen wesentlichen Treiber des globalen Wachstums darstellt, gab in diesem Jahr unter das Trendniveau nach. Die Regierung hat die politischen Unterstützungsmaßnahmen eingestellt und strengere Vorschriften in wichtigen Bereichen der Wirtschaft verabschiedet. Überdies kam es zu Verwerfungen am Immobilienmarkt.

Vor diesem Hintergrund war ein Anstieg der nominalen Anleihenrenditen zu beobachten. Bislang scheinen die wichtigen Zentralbanken lieber Vorsicht walten zu lassen. Die Ansicht, die Inflation sei vorübergehender Natur, hat sich hartnäckig gehalten. Als Folge unternehmen die politischen Entscheidungsträger nichts dagegen, dass der Markt Zinserhöhungen einpreist. Indem sie eine abwartende Haltung einnehmen, können sie flexibel reagieren, sollte das Wachstum enttäuschend ausfallen oder sich die Inflation abschwächen. Diese Haltung hat auch die realen Zinsen gedrückt. Dennoch müssen die Zentralbanken einen Drahtseilakt vollführen, bei dem sie einerseits ihre Geldpolitik straffen und andererseits den Auswirkungen einer Wachstumsverlangsamung begegnen müssen. Die Gefahr geldpolitischer Fehltritte in den nächsten 12 Monaten hat zugenommen, und dies hat auch Auswirkungen auf die Bewertungen an den europäischen Aktienmärkten.

Stetigen Kurs einschlagen

Wir „Markt-Navigatoren" müssen uns also mit unseren ganz eigenen Homerschen Ungeheuern herumschlagen. Auf der einen Seite sehen wir uns mit Skylla in Form eines globalen Wachstumsausblicks konfrontiert, der mittlerweile deutlich ungewisser und komplexer geworden ist. Auf der anderen Seite haben wir unseren Charybdis: steigende Renditen und eine unerwartet hohe Inflation sowie die damit einhergehenden Folgen für die Aktienmarktbewertungen.

Die äußerst entgegenkommende Geldpolitik hat einen über längere Zeit anhaltenden Anstieg der Kurs-Gewinn-Verhältnisse nach sich gezogen. Mittlerweile herrscht jedoch die Ansicht vor, dass wir auf einen stärker auf den Fundamentaldaten basierenden Markt zusteuern. Da die weitere Entwicklung der Renditen mit Ungewissheit behaftet ist, werden die Gewinne wohl den Haupttreiber der Erträge darstellen.

Vor diesem Hintergrund ist der Gewinnanstieg in den vergangenen drei Monaten anzumerken. In diesem Zeitraum waren es eher die Anpassungen der Gewinne pro Aktie (Earnings per Share, EPS) und nicht die Bewertungen, die den Markt beflügelt haben. Dieses starke EPS-Wachstum – wobei die Nachfrage und Margen im europäischen Unternehmenssektor weiter robust ausfallen – hat die Sorgen in Bezug auf eine Reihe sich verschlechternder Makrokennzahlen bislang zum Teil mindern können.

Grüne Ufer

Kommen wir nun zu den Irrfahrten des Odysseus zurück. Er wurde im Vorfeld gewarnt, dass Skylla zu schnell und zu stark sei, um besiegt zu werden. Dennoch legte Odysseus seine schwere Rüstung an und konnte die Meerenge erfolgreich durchsegeln. Sich ein Bild von den 2022 zu erwartenden Risiken zu machen und die Portfolios entsprechend zu positionieren, ist vermutlich ein weitaus weniger aussichtloses Unterfangen. Die „Rüstung“ der Portfoliomanager ergibt sich aus der Identifizierung von und dem Engagement bei Unternehmen hoher Qualität, d.h. solche, die die seltene und beneidenswerte Fähigkeit besitzen, ihre Gewinne unter verschiedenen Marktgegebenheiten steigern zu können.

Wir halten Europa für ein potenziell günstiges Jagdrevier für Aktienanleger

Vor diesem Hintergrund halten wir Europa für ein potenziell günstiges Jagdrevier für Aktienanleger. Der Kontinent weist ein im Vergleich zu vielen anderen Regionen ausgewogeneres Marktumfeld auf, was in unsicheren Zeiten von Vorteil sein kann. Die Entwicklung Europas dürfte in den nächsten zehn Jahren zudem durch deutlich längerfristige und stärkere positive Faktoren gestützt werden. So etwa der EU-Wiederaufbaufonds im Umfang von 750 Mrd. EUR. Dieser sorgt nicht nur für anhaltende iskalische Unterstützung, sondern baut auch die Führerschaft der EU in Sachen ESG gegenüber den USA und Asien aus.

Ebenso dürften unseres Erachtens immer mehr europäische Unternehmen in Bereichen wie dem Zahlungsverkehr und Industriesoftware eine Führungsposition einnehmen und damit der überholten Vorstellung, Europa sei im Hinblick auf die wichtigsten Technologiebereiche nicht konkurrenzfähig, ein Ende bereiten.

Abschließende Erwägungen...

Das Umfeld dürfte sich 2022 schwierig gestalten. Es lauern potenzielle Gefahren – vom unsicheren Konjunkturausblick bis hin zur steigenden Inflation. Vor diesem Hintergrund halten wir an unserem disziplinierten Anlageprozess mit unverändertem Fokus auf Unternehmen mit hoher Qualität fest. Mit diesem Ansatz dürften wir unseres Erachtens in der Lage sein, Skylla und Charybdis erfolgreich zu umsegeln.

Jamie Mills O'Brien, Investment AnalystEuropean Equities, abrdn

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