„Vor den französischen Präsidentschaftswahlen im April hat Emmanuel Macron in den Umfragen sowohl im ersten als auch im zweiten Wahlgang einen komfortablen Vorsprung. Obwohl die Unterstützung für populistische Kandidaten erneut stark ist, finden die Wahlen 2022 vor einem ganz anderen wirtschaftlichen und politischen Hintergrund statt als 2017. Frankreich hat zwar eine der stärksten Erholungen von der Pandemie erfahren, die hohe Inflation untergräbt aber die Kaufkraft der Arbeitnehmenden, sodass das Thema zusammen mit der französischen Klimastrategie in den Mittelpunkt des Wahlkampfs rückt.
Macron tritt eher als Amtsinhaber denn als Aufrührer an und genießt in dieser Phase des Wahlkampfs eine stärkere Unterstützung als seine beiden Vorgänger. Durch den Rücktritt von Angela Merkel ist er nun die ranghöchste Staatsperson in Europa, während der Krieg in der Ukraine das Ansehen der Populisten mit Verbindungen zu Putin schwächt.
Das politische Spektrum ist, durch den Aufstieg von Eric Zemmour und der damit einhergehenden Spaltung der rechtsextremen Wählerschaft sowie der anhaltenden Schwierigkeiten der traditionellen Parteien an Fahrt zu gewinnen, noch stärker zersplittert. Derweil hat sich Marine Le Pens Euroskepsis seit 2017 abgeschwächt, um die politische Mitte mehr anzusprechen. Das größte Risiko ist weniger der eindeutige Sieg eines extremen Kandidaten, sondern vielmehr ein stärker gespaltenes Parlament nach den Wahlen im Juni. Eine zentristische Regierung, die in die zweite Amtszeit geht, wird wahrscheinlich Kompromisse mit Parteien der Linken und der Rechten in der Wirtschafts-, Energie- und Europapolitik eingehen müssen. Dies könnte zu einer politischen Stagnation führen.
Die Finanzmärkte dürften die Wiederwahl Macrons begrüßen. Sie verspricht politische Kontinuität, einige weitere Fortschritte bei der Reformagenda, möglicherweise eine stärkere EU-Integration und einen erneuten Versuch, eine Rentenreform in Angriff zu nehmen. Macron ist ein Befürworter von mehr Investitionen in grüne und nukleare Technologien, wird sich aber davor hüten, die Steuern auf Brennstoffe oder Kohlenstoff zu erhöhen, da er eine Rückkehr der Gelbwesten-Bewegung fürchtet. Die Rentenreform wird das schwierigste Thema sein und birgt zudem das Potenzial, die sozialen Spannungen wieder aufleben zu lassen, die in den ersten Jahren seiner Präsidentschaft aufgetreten sind.
Sollte einer der populistischen Kandidaten gewählt werden, würden französische Vermögenswerte wahrscheinlich unter Druck geraten. Wir würden eine Ausweitung der Spreads französischer Staatsanleihen und eine Underperformance inländisch orientierter französischer Aktien- und Kreditpapiere erwarten. Angesichts der Abkehr der Populisten von ihren europaskeptischen Ansichten wären die Auswirkungen jedoch wahrscheinlich weniger extrem als im Jahr 2017 oder als das, was wir nach den italienischen Wahlen 2018 gesehen haben.“
Pietro Baffico, European Economist bei abrdn