Der kurzfristige Konjunkturausblick für Unternehmensanleihen mit Investment-Grade-Rating erscheint derzeit recht herausfordernd. Die Anlageklasse sah sich bereits einer Verlangsamung des weltweiten Wachstums und einer hohen Inflation sowie einem wesentlich unvorteilhafteren Ausblick für die Geldpolitik gegenüber. Der Ukraine-Konflikt hätte also zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt ausbrechen können, da er die Wachstumsaussichten weiter eingetrübt und die Inflation angesichts der steigenden Rohstoffpreise noch stärker angekurbelt hat.
Allerdings erkennen wir einige wichtige ausgleichende Faktoren, die zumindest für eine insgesamt neutrale Einschätzung der Anlageklasse sprechen. Gleichzeitig erläutern wir, warum das aktuelle Umfeld sowohl auf Sektor- als auch auf Titelebene ein äußerst selektives Vorgehen verlangt.
Deutlich höhere Kompensation durch die Rendite
Eine wichtige Änderung besteht darin, dass die Gesamtrendite und mithin das zunächst erwartete Ertragsniveau eines Engagements bei IG-Anleihen mittlerweile deutlich gestiegen ist. Im Falle des weithin beachteten Barclays Bloomberg Global Corporates – Aggregate Index übersteigt die aktuelle Rendite von 3,39% beispielsweise die zum Jahresende 2021 verzeichnete Rendite von 1,89% um 79% und die zum Jahresende 2020 verzeichnete Rendite von 1,34% um 149%.1
In diesem höheren Renditeniveau kommt im Wesentlichen der höhere Ertrag zum Ausdruck, der als Ausgleich für die negativen Auswirkungen der höheren Inflation, steigenden Zinsen und des schwächeren Weltwirtschaftswachstums verlangt wird. Gleichwohl ist das verfügbare Ertragsniveau deutlich gestiegen und könnte für langfristig orientierte Anleger einen guten Einstiegspunkt darstellen.
Solide Fundamentaldaten
Wichtig hierbei ist, dass die Fundamentaldaten für IG-Unternehmensanleihen als Ganzes trotz deutlicher Unterschiede zwischen den einzelnen Sektoren und Regionen weiterhin robust ausfallen, was für ein begrenztes Kreditrisiko spricht. Beflügelt durch die globale Konjunkturerholung nach der Covid-19-Pandemie bewegen sich die Reingewinnmargen nahe ihrer Allzeithochs, verharrt die Liquidität auf hohem Niveau und zeigt sich die Schuldendienstfähigkeit so stark wie seit den späten 1990er-Jahren nicht mehr. Ungünstiger fallen die nach wie vor über ihrem langfristigen Durchschnittswert liegenden Netto- und Bruttoverschuldungsquoten aus, bei denen der allgemeine Trend in den letzten Jahren jedoch erfreulicherweise rückläufig war.2
Reingewinnmargen nordamerikanischer und europäischer IG-Unternehmensanleihen (%)
Differenzierung ist entscheidend – USA vs. Europa
Obwohl höhere Renditen und solide Fundamentaldaten andere ungünstigere externe Faktoren womöglich teilweise kompensieren, ist eine Differenzierung innerhalb des globalen Marktes für IG-Unternehmensanleihen im aktuellen Umfeld wichtiger denn je. In dieser Hinsicht lässt sich derzeit eine wichtige Unterscheidung zwischen der US- und der europäischen Wirtschaft treffen. Europa ist im Allgemeinen stärker vom Ukraine-Konflikt betroffen, da es eine recht hohe Abhängigkeit von russischen Energieimporten sowie andere bedeutende Handelsbeziehungen und finanzielle Verflechtungen mit Russland aufweist.
„Obwohl höhere Renditen und solide Fundamentaldaten andere ungünstigere externe Faktoren womöglich teilweise kompensieren, ist eine Differenzierung innerhalb des globalen Marktes für IG-Unternehmensanleihen im aktuellen Umfeld wichtiger denn je.“
Die USA befinden sich im Vergleich zu Europa in einer wesentlich komfortableren Lage. Denn nur rund 5% der US-Ölimporte stammten aus Russland (und sind jetzt mit einem Verbot belegt). Darüber hinaus stellen die USA dank der Fracking-Revolution nun einen Netto-Exporteur von Öl und Gas dar. Die höheren Ölpreise werden die US-Verbraucher zwar belasten, die diesbezügliche Anfälligkeit nimm jedoch im Laufe der Zeit ab, und das während der Pandemie angesparte Vermögen der privaten Haushalte könnte einen gewissen Puffer darstellen, obwohl es ungleichmäßig verteilt ist. Da die USA ein Netto-Energieexporteur sind, könnten die höheren Ölpreise, die in höheren inländischen Investitionen in neue Produktionskapazitäten zum Ausdruck kommen, überdies für positive Wachstumsimpulse sorgen.
Auswirkungen des Ukraine-Konflikts auf Sektorebene
Neben den regionalen Unterschieden ergeben sich aus dem aktuellen Konflikt in der Ukraine und den allgemein steigenden geopolitischen Spannungen auch einige wichtige Auswirkungen für einzelne Sektoren. Wenig überraschend haben die steigenden Preise Unternehmen des Energiesektors auf kurze Sicht begünstigt, wovon wiederum der US-Markt für IG-Unternehmensanleihen, in dem der Energiesektor stärker ins Gewicht fällt, in höherem Maße profitiert. Darüber hinaus könnten US-Energieunternehmen, vor allem Schiefergasproduzenten, auf längere Sicht Hauptnutznießer der europäischen Bemühungen sein, die Energienachfrage aus nicht-russischen Quellen zu befriedigen.
Ein anderer Sektor, der besonders stark von den jüngsten Ereignissen betroffen sein dürfte, ist die Rüstungsindustrie. Die unmittelbare Nähe zum Krieg in der Ukraine und der durch diesen Konflikt ausgelöste Schock dürften in den kommenden Jahren für einen Anstieg der Verteidigungsausgaben europäischer Länder sorgen. Des Weiteren stammt nicht nur ein großer Teil der globalen Energieversorgung aus Russland, was vielfach hervorgehoben wurde, das Land ist auch ein wichtiger Lieferant anderer Rohstoffe, darunter Palladium, Weizen und Platin. Da die Sanktionen auch die Versorgung der westlichen Märkte mit diesen Rohstoffen beeinträchtigen, können Unternehmen, die imstande sind, diese Angebotslücke zu füllen, zweifellos davon profitieren.
Anteil Russlands an der globalen Rohstoffproduktion (%)
2018 | 2019 | 2020 | |
---|---|---|---|
Öl | 12,2 | 12,3 | 12,1 |
Erdgas | 17,4 | 17,1 | 16,6 |
Kohle | 5,6 | 5,5 | 5,2 |
Kupfer | 4,3 | 4,3 | 4,3 |
Aluminium | 5,9 | 6,2 | 6,1 |
Nickel | 6,8 | 6,3 | 6,1 |
Zink | 1,9 | 1,5 | 1,5 |
Gold | 8,5 | 9,1 | 9,5 |
Silber | 5,1 | 5,3 | 5,4 |
Platin | 10,8 | 11,7 | 14,1 |
Palladium | 39,4 | 41,9 | 43,9 |
Weizen | 9,8 | 9,7 | 11 |
Quelle: JP Morgan Research, März 2022
Fazit
Die IG-Kreditmärkte sehen sich mit einem schwierigen Umfeld aus höherer Inflation, restriktiveren Zentralbanken und einem Krieg in Europa, der den globalen Konjunkturausblick eintrübt, konfrontiert. Die gute Nachricht ist jedoch, dass die Renditen und Spreads deutlich gestiegen sind, wodurch die Anlageklasse wieder höheres Wertpotenzial bietet. Gleichzeitig fallen die Fundamentaldaten der Unternehmen weiterhin stark aus. Insbesondere für defensive, ertragsorientierte Anleger könnte daher der relativ risikoarme Teil des Kreditspektrums gegenwärtig attraktiv sein.
Insgesamt halten wir jedoch eine neutrale Positionierung in Bezug auf die Anlageklasse für angebracht. Im Rahmen dieser generellen Einschätzung ergeben sich allerdings zahlreiche Dynamiken und Trends auf geografischer und Sektorebene, die sich aktive Anleger zunutze machen können.
Credit Specialist Team, abrdn
Quellen
1. Bloomberg Barclays Global Aggregate – Corporates Index, Stand: 12. April 2022
2. Global Credit Trader, Goldman Sachs, 24. März 2022