"Die erste Runde der französischen Parlamentswahlen hat gezeigt, dass die Gefahr besteht, dass Präsident Macron seine Mehrheit verlieren könnte. Meinungsforscher sagen zwar voraus, dass die zentristische Gruppe Ensemble am 19. Juni immer noch die meisten Sitze in der Assemblée Nationale erringen könnte, sind aber angesichts des Kopf-an-Kopf-Rennens mit dem Linksbündnis NUPES weniger zuversichtlich, was die absolute Mehrheit angeht.
Auch wenn die Sitzverteilung aufgrund des Wahlkreissystems schwer vorherzusagen ist, dürfte der Vorsprung in der zweiten Runde am 19. Juni knapp ausfallen. Die landesweite Unterstützung für einen neu gewählten Präsidenten führt normalerweise zu einer komfortablen Mehrheit, aber die Wähler sind eher desinteressiert, was zu einer rekordverdächtig niedrigen Wahlbeteiligung und einer grösseren Unzufriedenheit mit Macron als 2017 führte. Die anhaltende Krise der Lebenshaltungskosten führte auch zu mehr Unterstützung für populistische Parteien.
Ohne eine Mehrheit in der Versammlung müsste Macron erhebliche Kompromisse bei seiner Reformagenda eingehen, da die Renten- und Beschäftigungsreformen von der linken Koalition abgelehnt werden. Der Präsident müsste sich wahrscheinlich auf Les Republicains stützen, obwohl diese einige Zugeständnisse machen müssten, wahrscheinlich die Sozialausgaben einschränken und eine strengere Haushaltsdisziplin anstreben.
In dem relativ unwahrscheinlichen Szenario, dass das NUPES-Bündnis die Mehrheit erlangt, würde es zu einer Kohabitation kommen. Es ist jedoch nicht klar, inwieweit die Grünen und die Sozialisten in der Regierung hart-linke Positionen unterstützen würden. Präsident Macron würde die Kontrolle über die Aussen- und Verteidigungspolitik behalten, während es zu einer widersprüchlichen Wirtschaftspolitik oder zu einer politischen Lähmung kommen könnte."
Pietro Baffico, European Economist bei abrdn