Für die zweite Jahreshälfte bleibt James Athey, Investment Director bei abrdn, vorsichtig: „Zwar haben die allgemeinen Wirtschaftsdaten in den vergangenen sechs Monaten weitgehend positiv überrascht, aber erste Anzeichen in den Trendindikatoren deuten auf eine beginnende Abkühlung hin.“ Zudem würde sich die geldpolitische Straffung der Zentralbanken wahrscheinlich erst in der zweiten Jahreshälfte 2023 oder später in nennenswertem Umfang auf die Wirtschaft auswirken. „Dieser bekannte, aber latente Stimulus-Rückzug wird die Wirtschaft auf breiterer Basis treffen – insbesondere, wenn eine größere Anzahl von Verbrauchern ihre angesammelten Ersparnisse aufbraucht.“
Rezession nach wie vor möglich
Aus diesen Gründen bevorzugt Athey weiterhin Anleihen, die nach Ansicht des Investmentexperten attraktive Renditen und defensive Qualitäten während dieser späten Zyklusphase bieten. Im Gegensatz dazu preisten viele zyklische Anlagen wie Aktien aktuell eine stete Disinflation, aber keine tiefgreifende Rezession ein. „Wir bleiben skeptisch, gerade angesichts der Geschwindigkeit, mit der wir uns zwischen den Extremen bewegt haben, und den unklaren Auswirkungen der raschen geldpolitischen Straffung. Die Volkswirtschaften und das Finanzsystem sind nach wie vor hoch verschuldet, und die Bedienung dieser Schulden wird immer schwieriger, insbesondere für ärmere Verbraucher und kleinere, schwächere Unternehmen.“
Weitere Marktverwerfungen nicht ausgeschlossen
Die makroökonomische und politische Unsicherheit sei nach wie vor groß, und damit auch die Volatilität an den Märkten. „Wie wir im März gesehen haben, kann es außerhalb des Wirtschaftswachstums zu bedeutenden Überraschungen kommen, die sich erheblich auf die Märkte und die Finanzpolitik auswirken können.“ In der Eurozone rechnet Athey bis zum Jahresende mit fiskalpolitischem Gegenwind. „Die EU-Staaten werden gezwungen sein, bei fiskalischen Maßnahmen zurückhaltender zu sein, selbst wenn sich die Regeln gegenüber denen, die vor der Pandemie galten, weiterentwickeln.“ Auch in den USA können staatliche Ausgabenkürzungen trotz der wahrscheinlichen Einigung im Schuldenstreit erforderlich sein.
China im Blick behalten
Das chinesische Wirtschaftswachstum habe nach der Wiedereröffnung die hochgesteckten Erwartungen noch nicht erfüllt. Für Athey kommt dies nicht überraschend: „Neben den Herausforderungen auf dem Immobilienmarkt sind die politischen Entscheidungsträger eher bestrebt ein organisches und verbraucherorientiertes Wachstum als schuldenintensive und zunehmend unproduktive Infrastrukturinvestitionen zu ermöglichen.“ Die Inflation bei den Verbraucher- und Erzeugerpreisen sei in China nach wie vor niedrig, was eine anhaltende disinflationäre Wirkung auf die weltweiten Warenpreise haben werde. „Sollte sich das Wachstum jedoch zu stark abschwächen, ist mit einer wie auch immer gearteten politischen Reaktion zu rechnen, die sich erneut auf die Dynamik der globalen Finanzmärkte auswirken könnte“, so Athey.
El Niño als Inflationstreiber
Daten deuten auf das Auftreten ungewöhnlicher, nicht zyklischer, veränderter Meeresströmungen und entsprechender Wetterphänomene in diesem Jahr hin. „Dieser El-Niño-Effekt könnte der Landwirtschaft erheblichen Schaden zufügen und einen weiteren Inflationsschub bei den Lebensmittelpreisen auslösen“, so Athey. Eine steigende Inflation würde die Zentralbanken dazu veranlassen, länger eine restriktive Haltung einzunehmen, was sich negativ auf die langlaufenden Anleihen in den Kernmärkten auswirken würde. „In Übereinstimmung mit unseren Erwartungen würde dies jedoch wahrscheinlich zu einer schwachen Performance von Risikoanlagen führen.“
Defensiv positionieren
Die Wirtschaft sei in den letzten Jahren stark schuldenbasiert gewachsen, während die Kosten für die Bedienung dieser Schulden in den letzten Jahren drastisch gestiegen seien. „Es ist schwer vorstellbar, dass sich dieser Prozess auf dem Weg zu einem neuen Gleichgewicht ohne erhebliche Beeinträchtigung der Konjunktur vollziehen wird. Wir gehen daher in weiten Teilen der Welt nach wie vor von Rezessionen aus.“ Aber Athey hat auch positive Nachrichten: „Die jüngsten Bewegungen an den Märkten haben die implizite Wahrscheinlichkeit eines solchen Ergebnisses erheblich reduziert, was unserer Meinung nach eine attraktive Gelegenheit für eine defensive Positionierung bietet.“