Wir gehen davon aus, dass die US-Notenbank in diesem Jahr zwei Zinssenkungen vornehmen wird, und zwar im September und im Dezember, da das Wachstum und die Inflation in der zweiten Jahreshälfte wahrscheinlich leicht zurückgehen werden.
Wir nehmen jedoch das Risiko ernst, dass es keine Zinssenkungen geben könnte, oder dass der nächste Schritt eine Zinserhöhung ist. In der Tat messen wir den Szenarien „Nullrunde“ und „Ölpreisanstieg“, in denen die Geldpolitik in diesem Jahr beibehalten oder sogar verschärft wird, eine kumulative Wahrscheinlichkeit von 35 % bei.
Was das Wachstum anbelangt, so ist die Konjunktur weiterhin robust, gestützt durch starke Verbraucher- und Unternehmensbilanzen, eine lockere Finanzpolitik, einen hohen Nettozuwanderungssaldo und steigende Produktivität. Dieser Rückenwind könnte im Laufe des Jahres 2024 etwas nachlassen, so dass das Wachstum unserer Meinung nach moderat ausfallen wird. Es bestehen sowohl Aufwärtsrisiken für ein weiterhin über dem Trend liegendes Wachstum oder einen Anstieg des Trendwachstums selbst als auch Abwärtsrisiken für eine stärkere Abschwächung.
Was die Inflation anbelangt, so war der Verbraucherpreisindex im März wieder einmal sehr hoch. Je weiter das Jahr voranschreitet, desto schwieriger wird es, diese Stärke auf saisonale Schwankungen und andere Eigenheiten zurückzuführen.
Wir gehen nach wie vor davon aus, dass eine leichte Disinflation bevorsteht, da sich das Lohnwachstum verlangsamt und niedrigere Marktmieten darauf hindeuten, dass sich die Inflation bei Wohnimmobilien irgendwann abschwächen wird. So dürfte die Kernrate der Inflation für die privaten Konsumausgaben (PCE) bis zum Sommer auf 2,5 % im Jahresvergleich sinken, doch könnte der Fortschritt im weiteren Jahresverlauf ins Stocken geraten, da sich Basiseffekte als weniger hilfreich erweisen. In der Vergangenheit gab es jedoch genügend Anzeichen dafür, dass die Inflation auf der „schwierigen letzten Meile“ über dem Zielwert verharrt oder sogar wieder ansteigt, weshalb wir diese Risiken ernst nehmen.
Was die Politik angeht, so bedeutet die positive Überraschung beim Verbraucherpreisindex, dass die Fed noch nicht die Fortschritte sieht, die sie braucht, um im Sommer mit Zinssenkungen zu beginnen.
Wir sind der Meinung, dass die Fed mindestens bis September warten wird, bevor sie die Zinssätze senkt, und dann im Dezember erneut senken wird. Die Risiken tendieren jedoch zu einem noch späteren Starttermin, falls die Inflation nicht nachlässt. Trotz dieser Kehrtwende hat Powell argumentiert, dass die Politik immer noch restriktiv sei und eine hohe, aber nicht unüberwindbare Hürde für eine weitere Straffung darstelle. Ein starker Anstieg der Ölpreise, der durch geopolitische Risiken ausgelöst wird, könnte ein Auslöser dafür sein, keine Kürzungen oder sogar weitere Erhöhungen vorzunehmen.
Von Paul Diggle, Chief Economist bei abrdn