„Trotz enormer Geldspritzen der Zentralbanken in weiten Teilen der Welt wächst die Weltwirtschaft nur schleppend, und die Inflation kommt nicht richtig in Gang. Das nährt Zweifel an der Wirksamkeit des geldpolitischen Übertragungsmechanismus und der Instrumente der Zentralbanken. Viele Anleger fragen sich, ob es daher nicht an der Fiskalpolitik ist, der Weltwirtschaft den nötigen Schub zu geben, um Mini-Wachstum und Mini-Inflation endlich hinter sich lassen zu können. Die Mehrheit der Marktteilnehmer rechnet deshalb in den kommenden Monaten mit einer Lockerung der Sparpolitik in wichtigen Industrieländern. Umfangreiche staatliche Ausgabenprogramme halten viele indes für eher unwahrscheinlich.
Haushaltspolitik wird zum wesentlichen Konjunkturmotor in den Industrieländern
Trotz aller Skepsis sehe ich erhebliches Potenzial für haushaltspolitische Maßnahmen, die im nächsten Jahr und darüber hinaus Wachstum und Preise auf Trab bringen könnten. Das unspektakuläre gesamtwirtschaftliche Umfeld und günstige politische Umstände in den großen Volkswirtschaften haben die Rahmenbedingungen dafür geschaffen, dass die Finanzminister ab 2017 wieder etwas mehr ausgeben können.
In den USA werden wir nach den Wahlen im November klarer sehen, was die Haushaltspolitik anbelangt. Beide Kandidaten haben jedoch höhere Staatsausgaben und erhebliche Infrastrukturinvestitionen in Aussicht gestellt. In Großbritannien hat der neue Schatzkanzler wegen des Brexit-Votums bestätigt, dass er von der bis 2020 angestrebten Haushaltskonsolidierung seines Vorgängers abrücken wird. Dies muss zwar keine völlige Abkehr von der Austeritätspolitik bedeuten, lässt aber zumindest auf eine Lockerung des strikten Sparkurses hoffen. Der für November angekündigte Herbstbericht des neuen Schatzkanzlers wird hierzu mehr Einzelheiten liefern.
Auch in der Eurozone zeichnet sich ein Trend zu höheren Staatsausgaben ab. In Frankreich und Deutschland finden im nächsten Jahr Wahlen statt. Und in einigen Ländern, darunter Italien und die Niederlande, stehen wichtige Volksabstimmungen an. Dabei war die Sparpolitik die zentrale Antwort der Euro-Politiker auf die Finanzkrise. Richtig ist aber auch, dass das strenge Defizitziel bereits in diesem Jahr etwas gelockert wurde, um die mit dem Flüchtlingszustrom gestiegenen Lasten besser schultern zu können. Deutschland sieht sich bereits seit Jahren mit der Forderung konfrontiert, seinen Haushaltsüberschuss zu senken. Nun gibt es zaghafte Anzeichen dafür, dass sich die Bundesregierung in diese Richtung bewegt.
Aber staatliche Stimulusmaßnahmen sind nicht allein auf höhere Staatsausgaben beschränkt. In manchen Ländern wie Japan sind sie zielgerichteter und beinhalten zum Beispiel steuerliche Anreize zur Senkung der Sparquote von Unternehmen. Japans Regierung hat bereits im August ein Haushaltspaket geschnürt. Sein Einfluss auf das Wachstum dürfte sich aufgrund des geringen Volumens allerdings in Grenzen halten. Da die japanische Wirtschaft weiterhin auf der Stelle tritt, ist eine beherztere Wiederaufnahme der „Abenomics“ wichtiger denn je.
Geldpolitik bestimmt, ob höhere Ausgaben in den Industrieländern auch den Schwellenländern nutzen
Von mehr Wachstum und stärkerer Nachfrage aus den Industrieländern könnten die Schwellenländer profitieren. Ihr Wachstum hat sich nach Jahren enttäuschender Wirtschaftsentwicklung in diesem Jahr leicht beschleunigt, denn der Gegenwind aus drei verschiedenen Richtungen hat sich zum Rückenwind gewandelt. Dazu beigetragen haben das von staatlichen Stimulusmaßnahmen angekurbelte Wachstum in China, wieder steigende Rohstoffpreise und zusätzliche geldpolitische Lockerungen wichtiger Zentralbanken.
Aktien und Anleihen aus den Schwellenländern haben ihre globalen Vergleichsindizes seit Durchschreiten der Talsohle Anfang des Jahres um rund 15 Prozent übertroffen. Aber trotz des Optimismus der Märkte sind die makroökonomischen Fundamentaldaten der Schwellenländer nach wie vor uneinheitlich. Ob sich ihr gesamtwirtschaftlicher Ausblick bessert und die Schwellenländer ihren Kurs behaupten können, hängt wesentlich von den bereits erwähnten drei Faktoren ab: von China, den Rohstoffpreisen und der weltweiten geldpolitischen Lockerung. Da die Geldpolitik zukünftig aber wohl kaum so entgegenkommend bleiben wird wie bisher, wächst die Abhängigkeit der Schwellenländer vom Wachstum in China. Nach den Stimuluspaketen Pekings in der ersten Jahreshälfte könnte die Konjunktur in China erst einmal an Schwung verlieren. Verliert Chinas Wachstum an Fahrt, würde das wiederum auch einem weiteren Anstieg der Rohstoffpreise einen Riegel vorschieben.“
Anna Stupnytska, Volkswirtin, Fidelity International