Die Augen der Weltöffentlichkeit dürften in den kommenden Wochen einmal mehr auf Japan gerichtet sein, wo zwischen dem 23. Juli und 8. August die 32. Olympischen Spiele der Neuzeit ausgetragen werden. Doch auch wenn die Spiele aus Präventionsgründen ohne Zuschauer stattfinden, um eine weitere Verbreitung von COVID-19 im Land zu verhindern, gewinnt der fernöstliche Inselstaat vor allem bei Investoren wieder an Attraktivität. Lange herrschte dort wirtschaftliche Flaute und attraktive Entwicklungen ließen die letzten Jahrzehnte auf sich warten. Richard Kaye, Portfoliomanager bei der internationalen Fondsgesellschaft Comgest, ist davon überzeugt, dass für Japan auch am Börsenhorizont Licht in Sicht ist – wenn Investoren genauer hinsehen und sich nicht vom Blick auf die Indizes abschrecken lassen.
Vor ziemlich genau 150 Jahren, am 27. Juni 1871, trat in Japan die „Neue Währungsordnung“ in Kraft. Diese legte den Grundstein für das moderne Währungssystem und stellte den Yen in den Mittelpunkt. Seit diesem historischen Meilenstein ist viel passiert und der Inselstaat wandelt sich zunehmend zu einem fruchtbaren Boden für Wachstumsinvestoren. Japan ist mittlerweile die drittgrößte Volkswirtschaft. Das Land zeichnet sich durch eine sehr hohe Konzentration an familiengeführten Unternehmen aus. Ein Drittel der gelisteten Unternehmen in Japan sind auf eine Art familiengeführt. Das macht sie Analysten zufolge zu Unternehmen, die generationsübergreifend handeln, was für langfristig orientierte Investoren ein großes Plus ist. Zudem ist der japanische Aktienmarkt mit mehr als 3.700 gelisteten Aktien einer der größten der Welt. Das sind mehr Aktien als an den Börsen von Shenzen und Shanghai in China, die seit der Marktöffnung für ausländische Investoren zu den neuen Börsenstars gehören. Dennoch interessieren sich institutionelle Investoren kaum für den japanischen Aktienmarkt. Wenn überhaupt, erwägen viele lediglich, in ein passives Instrument zu investieren, um das Benchmark-Risiko abzusichern. Unter Anbetracht der Entwicklung des Aktienindexes bis zur globalen Finanzkrise ist diese Vorsicht nachvollziehbar. Wenn man allerdings ein Auge auf das hohe Alpha-Potential wirft, das Japan für Wachstumsinvestoren bietet, zeigt sich ein anderes Bild.
Der erste Blick täuscht
Der Top-Down-Blick auf Japan hält viele Investoren davon ab, im Land der aufgehenden Sonne zu investieren. Die Schuldenlast ist hoch, die Bevölkerung wird älter, eine deflationäre Spirale hat die Binnenwirtschaft über Jahrzehnte gebremst und die starke Währung setzt der Profitabilität vieler exportorientierter Unternehmen zu. Kurzum: Das Desinteresse am japanischen Aktienmarkt fand nach zwei Jahrzehnten Baisse in der globalen Finanzmarktkrise seinen Höhepunkt, als selbst einheimische institutionelle Investoren dem eigenen Aktienmarkt den Rücken kehrten und nur noch 25 Prozent der heimischen Marktkapitalisierung hielten. Ein Blick hinter die Fassade lohnt sich allerdings, denn das Bottom-up-Zeugnis für japanische Unternehmen fällt viel besser aus. Mit einem aktiven Investmentansatz lassen sich die oben genannten Herausforderungen umgehen – indem nicht ein Bruchteil der wachstumsschwachen Volkswirtschaft gekauft wird, sondern dynamisch wachsende Einzelunternehmen. So ist es möglich, die vielen „Value-Fallen“, wie etwa den wachstumsschwachen und sich in der Strukturkrise befindlichen Bankensektor, zu umgehen.
In ESG-Hinsicht unterschätzt
Selektive Aktienauswahl erlaubt es zudem, von der Informationsineffizienz des japanischen Aktienmarkts zu profitieren. Denn in Japan wird jede Aktie im Schnitt von sieben Analysten verfolgt, im Vergleich zu mehr als 40 Analysten pro Aktie in den USA. In puncto ESG-Aktivitäten haftet japanischen Unternehmen der Ruf an, hinter ihren globalen Mitbewerbern hinterherzuhinken. Jedoch sind gerade bei Umwelttechnologien viele Betriebe dem Rest der Welt voraus. Zudem sehen wir häufig tiefe Verbundenheit zur jeweiligen Vision und Engagement für den sozialen Zweck. Dieses Bild ist allerdings aufgrund der Komplexität des Marktes nicht durch standardisierte Verfahren von kurzfristigen Investoren erfassbar. Für japanische Unternehmen stellt es oft eine Herausforderung dar, jene Informationen zur Verfügung zu stellen, die von institutionellen Investoren gefordert werden würden, und es gibt nicht genügend qualitativ hochwertiges Research, um diese Lücken in der Transparenz zu füllen.
Unbekannte Stars
Für Wachstumsinvestoren bietet Japan eine Vielfalt an vernachlässigten Nebenwerten, die allerdings den Weltmarkt dominieren. Hamamatsu Photonics ist beispielsweise mit 90 Prozent Marktanteil Weltmarktführer für hochlichtsensitive Messgeräte, die Unreinheiten bis zur Größe eines Protons messen können. Solche Unternehmen führen ihren Markt an, können in Yen fakturieren, managen das Währungsrisiko somit auf natürliche Weise, sind innovativ, hochprofitabel und wachstumsstark. Als Exportweltmeister ist japanisches High-Tech-Engineering der Schlüssel für die Wettbewerbsfähigkeit vieler chinesischer Unternehmen. Die Nähe zu China bildet demnach einen wichtigen Wachstumsmotor für japanische Unternehmen. Robotik-Spezialisten wie Fanuc oder Keyence verdanken ihre Expansion gerade der starken Nachfrage nach Industrieautomatisierung auf dem asiatischen Kontinent. Aber auch japanische Konsumtitel wie die Fast Fashion Modekette Uniqlo oder Klaviere von Yamaha erfreuen sich bei der wachsenden Mittelschicht Chinas reger Nachfrage. Nihon M&A, Marktführer für Unternehmensberatung in Japan, ist ein plakatives Beispiel: Das Unternehmen hat sich seit der Gründung vor 30 Jahren auf die Nachfolgeberatung von mittelständischen gründergeführten Unternehmen spezialisiert. Nihon M&A hat sich durch den Aufbau eines engen Netzwerks bei japanischen Banken und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften sowie spezialisierten M&A-Beratern starke ökonomische Burggräben aufgebaut. Das Wachstumspotential ist aufgrund der hohen Anzahl von alternden Firmenchefs ohne natürliche Nachfolger aus der Familie mittel- und langfristig sehr hoch. Nihon M&A hat seine Gewinne pro Aktie über die vergangenen zehn Jahre annualisiert um 30 Prozent gesteigert. Für die kommenden fünf Jahre ist ein Wachstum auf gleicher Höhe als realistisch einzuschätzen.
Abenomics als Treiber
Nicht zu vernachlässigen ist bei der Beurteilung japanischer Aktien auch die Wirtschaftspolitik des früheren Premierministers Shinzō Abe, die auch unter dem Namern „Abenomics“ bekannt ist. Das Programm wurde in Japan mittels einer investitionsfreundlichen Steuerreform und einer durchgreifenden Arbeitsmarktreform umgesetzt. Die neuen Regelungen führten zu einem massiven Anstieg berufstätiger Frauen sowie einer Immigrationswelle, was der alternden Gesellschaft einen großen Produktivitätsgewinn bescherte. Die Reform der Unternehmensverfassung, welche in den Corporate Governance und Stewardship Code mündete, brach veraltete Managementstrukturen auf und ebnete den Weg für unabhängige sowie junge Kompetenz in den Aufsichtsräten, verbesserte die Kapitallokation, verlieh Minderheitsaktionären eine Stimme und hob die schwachen Kapitalrenditen auf internationales Niveau. So wurde ein Katalysator geschaffen, um den vielen überkapitalisierten japanischen Konglomeraten entgegenzuwirken und das Wachstum von dynamischen Qualitätsunternehmen zu fördern. In so einem breiten und unentdeckten Markt wie Japan ist es eine selektive Vorgehensweise umso wichtiger. Die Unternehmen in unserem Portfolio repräsentieren einen winzigen Anteil, weniger als ein Prozent, der börsennotierten japanischen Aktien. Über mehrere Jahre hinweg haben wir sie analysiert und sind überzeugt, dass sie starkes Wachstumspotential mitbringen. Wir investieren nicht unbedingt in Japan, sondern in Unternehmen, die zufällig ihren Sitz in Japan haben.
Richard Kaye, Portfoliomanager bei Comgest