Für Anleger, die planen, in das südamerikanische Schwellenland zu investieren oder bereits investiert sind, ist der Wahlausgang weiterhin wichtig, auch wenn die Risiken nach dem sehr knappen Ergebnis der ersten Runde geringer geworden sind und der Markt zuversichtlicher ist. Im Vorfeld der ersten Wahlrunde deutete alles auf einen deutlichen Sieg Lulas hin. Dies hat sich nicht bewahrheitet: Das Ergebnis fiel sehr viel knapper aus als erwartet und sowohl der Senat als auch der Kongress verzeichneten eine deutliche Verschiebung hin zur fiskalisch strengeren politischen Rechten. Dies bedeutet, dass die Möglichkeiten von Lula (der traditionell eher für eine nach links tendierende Politik steht), im Fall eines Wahlsiegs eine verschwenderische Haushaltspolitik zu betreiben, erheblich eingeschränkt wurden. Als Konsequenz dürfte der größte Unterschied zwischen den beiden Kandidaten im Umgang mit Nachhaltigkeit und dem Amazonas liegen. Leider ist Bolsonaros bisherige Bilanz diesbezüglich äußerst dürftig.
Der Markt blickt einem möglichen Sieg Lulas daher gelassener entgegen. Viele brasilianische Unternehmen sehen hierin derzeit kein großes Problem, da sich Lula zuletzt gemäßigter zeigte. Dazu gehört auch, dass er Geraldo Alckmin, einen ehemaligen Mitte-Rechts-Gouverneur von São Paulo, zu seinem Vizepräsidentschaftskandidaten erklärt hat.
Verbesserte Leistungsbilanz im Jahr 2022
Die wirtschaftliche Situation Brasiliens hat sich signifikant verbessert – die Zentralbank hat die Zinssätze in den letzten zwei Jahren auf 13,75 Prozent angehoben. Dies hat zur Folge, dass die Währung bei sinkender Inflation, die 2023 voraussichtlich 4,9 Prozent erreichen wird, eine der besten Renditen weltweit bietet. Inzwischen sind die BIP-Prognosen für 2022 und 2023 gestiegen, wobei der Konsens bei 2,76 Prozent für 2022 und 0,63 Prozent für 2023 liegt – ein deutlicher Unterschied zu anderen Ländern in der Welt zu diesem Zeitpunkt. Sollte Bolsonaro die Wahl wider Erwarten doch für sich entscheiden können, ist kurzfristig mit einem Anstieg der Märkte und der Währung zu rechnen, während unter Lula von einer stärkeren Sektorrotation und Kursverlusten in stark regulierten und Staatsunternehmen auszugehen ist.
Rohstoffe sind derzeit ein zweifelhafter Segen für Brasilien. Der Krieg in der Ukraine hat die Preise für Lebensmittel in die Höhe getrieben. Davon profitiert Brasilien als wichtiger Produzent und Exporteur von Agrarrohstoffen wie Weizen und Soja, was sich in einer Verbesserung der Handelsbilanz niederschlägt. Nahrungsmittel und Nahrungsmittelderivate sind neben Industrieerzeugnissen die wichtigsten Exportgüter Brasiliens. Ein Nachteil des weltweit und insbesondere in China zunehmend langsamen Wachstums sind jedoch die Auswirkungen auf Rohstoffe wie Eisenerz, dessen Preis im Jahresverlauf um 29 Prozent gefallen ist. Insgesamt verbessert sich die Leistungsbilanz, während die ausländischen Direktinvestitionen weiterhin solide sind und sich 2022 auf 68 Mrd. USD belaufen dürften – was das Leistungsbilanzdefizit deutlich ausgleichen würde.
Brasilianische Unternehmen setzen auf Digitalisierung
Der brasilianische Markt hält für Investoren attraktive Investmentgelegenheiten bereit, da viele Unternehmen über starke Qualitätsmerkmale verfügen: Sie sind hervorragend im Wettbewerb positioniert, werden von erfahrenen Managementteams geführt, die eine langfristige Vision haben und der große Binnenmarkt bietet ihnen erhebliche Chancen. Sie haben ehrgeizige Wachstumspläne und nutzen die Möglichkeiten der rasanten Digitalisierung, etwa im Finanzdienstleistungssektor (Meli, Nubankund XP). Brasilianische Einzelhändler wie der Schuhkonzern Arezzo oder Petz, das bei Tiernahrung und -zubehör führend ist, gewinnen aufgrund ihrer Größe, ihrer starken Marken und Produktangebote Marktanteile und verbessern ihre Strukturen. Auch etablierte Unternehmen wie BB Seguridade, die Versicherungstochter der Banco do Brasil, und die Brauerei Ambev treiben strategisch spannende Maßnahmen voran: BB Seguridade weitet den Vertrieb seiner Versicherungsprodukte außerhalb des Bankennetzes aus und vergrößert damit seinen adressierbaren Markt erheblich. Ambev erweitert seinen Bierlieferdienst (Z-Delivery) und seine Online-Plattform BEES. Auf diesem Marktplatz können gastronomische Betriebe neben Bier auch Lebensmittel kaufen und dazu eines der besten Vertriebsnetze Brasiliens nutzen. WEG, ein echtes Industriejuwel, ist federführend bei der Energiewende im Land. Der Industriekonzern investiert im großen Stil in Wind- und Solarenergie sowie Ladestationen für Elektroautos, während er gleichzeitig erfolgreich seine Expansion in den USA, China, Indien und Mexiko vorantreibt.
Von Juliette Alves, Schwellenländer-Analystin und Portfoliomanagerin & Nicholas Morse, Schwellenländer-Analyst und Portfoliomanager bei Comgest