„2022 wurde Japan von Anlegern in globale Trends eingebunden, die mit der Situation im Land nichts zu tun hatten. In Europa und Nordamerika führten die durch die Pandemie verursachten Störungen und übermäßige geldpolitische und haushaltspolitische Anreize zum größten Inflationsschub seit 40 Jahren. Wie in Zeiten zunehmender Inflation und steigender Zinssätze üblich, gewannen Unternehmen mit geringerer Qualität vorübergehend wieder an Preismacht. Während Finanz-, Energie- und Bergbausektor übermäßig von der Marktrotation profitierten, mussten Qualitätswachstumswerte massive Kursverluste hinnehmen. In der Erwartung, dass die Bank of Japan die US-Notenbank imitieren würde, wurden diese Marktmuster von den Marktteilnehmern nachgeahmt.
Die Situation in Japan weicht dank der unterschiedlichen Grundbedingungen jedoch sehr von der anderer Industrieländer ab: Die lockere Zentralbankpolitik, die schwache Demografie und die niedrigen Produktivitätssteigerungen führten zu divergierenden Inflations- und Kapitalkostenentwicklungen – einer bruchstückhaften und eher niedrigen Inflation sowie niedrigen Zinsen. Zudem ist die Konzentration der Industrie in Japan geringer als in den anderen Industrieländern. Diese Fragmentierung führt zu einem Hyperwettbewerb und schränkt die Preissetzungsmacht der einzelnen Unternehmen ein. Denn jede Preiserhöhung geht mit der Gefahr einher, Marktanteile zu verlieren. In den USA kontrollieren die vier größten Akteure in jeder Branche in der Regel über 30 Prozent des Marktes, während dieser Anteil in Japan bei weniger als 15 Prozent liegt. Das sorgt für eine faktische Preisobergrenze und der Anstieg der Verbraucherpreise lag unter anderem deshalb 2022 in Japan mit gerade einmal 2 Prozent deutlich unter den 9 Prozent in den USA. Trotz dieses unterschiedlichen Bildes haben Wachstumswerte in Japan das zweite Jahr in Folge erheblich an Wert verloren. Wir sind versucht zu sagen: Je höher die Qualität, desto stärker die Abwertung.
Die japanischen Banken hingegen erreichten KGV-Spitzenwerte in Erwartung einer restriktiveren Haltung des neuen Zentralbankgouverneurs. Diese Erwartung hat der Markt seit Dezember in den Kursen japanischer Banken eingepreist: sie stiegen deutlich. Im Jahr 2022 hat der japanische Bankensektor den US-Bankensektor um 30 und den europäischen Bankensektor um 20 Prozent outperformt. Am 6. Februar 2023 hat die Regierung jedoch zunächst Masayoshi Amamiya für den Posten des nächsten Gouverneurs der Bank of Japan ins Gespräch gebracht, der für seine expansive Haltung bekannt ist. Das hat zu einer rückläufigen Entwicklung japanischer Banken geführt und zeigt, wie makrosensitiv Unternehmen in diesem Sektor sind. Die schwache Kreditnachfrage, fehlende wirtschaftliche Burggräben und der harte Wettbewerb durch Fintechs zeigen, dass dieser im Einklang mit seinen erratischen Bewertungen schwankende Sektor für einen Qualitätswachstumsinvestor wie Comgest der falsche Ort ist. Zudem hat Premierminister Kishida am 14. Februar schließlich Kazuo Ueda nominiert – auch von ihm wird eine eher lockere Geldpolitik erwartet.
Auf der anderen Seite kehren jetzt, da die COVID-bedingten Beschränkungen für ausländische Reisende nach Japan aufgehoben wurden, auch die ausländischen Anleger zurück. Wir glauben, dass sich das Investitionsverhalten nach und nach wieder wandeln und sich der Fokus auf rationaleres, reales Wachstum verschieben wird. So dürfte Japans Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2023 nach den Konsensprognosen rascher wachsen als das aller anderen Industriestaaten (siehe Abbildung 1). Auch die Unternehmensführung verbessert sich zusehends, ein Beispiel hierfür ist die steigende Zahl externer Direktoren in den Vorständen japanischer Unternehmen. Japanische Unternehmen werden im Vergleich zu Firmen anderer Länder nach wie vor vergleichsweise wenig analysiert, so dass Anleger immer noch einige Schnäppchen bei führenden, aber verkannten Unternehmen finden könnten.
Zum Jahresanfang 2023 verfügen Japans Wirtschaft und Aktienmarkt über einige Stärken; diese liegen aber nicht in den Sektoren, die von der Value-Rotation profitieren. Unserer Ansicht nach bietet das Top-1-Prozent der japanischen Unternehmen wie Dexerials, Lasertec, Sysmex oder Nidec einzigartige Technologien in den Bereichen Diagnostik, Luft- und Raumfahrt oder E-Mobilität. Veränderungen in der japanischen Gesellschaft, wie etwa der Eintritt von mehr Frauen ins Berufsleben, führen unter anderem zu Rationalisierung in den klassischen Industrien und zu einer Änderung der Lebensstile. Zu den Unternehmen, die auf diese Wachstumstrends abzielen, gehört etwa Recruit, ein Personaldienstleister, der Frauen bei der Rückkehr ins Berufsleben unterstützt. NTT Data, ein IT-Dienstleistungs- und Beratungsunternehmen, profitiert besonders von den Bemühungen um digitale Effizienz in Japan, die sich auch nach der COVID-Pandemie fortsetzen. Da Japan plant, seine bereits fortgeschrittenen Bemühungen im Bereich der erneuerbaren Energien noch weiter zu verstärken, ist Renova, ein Anbieter erneuerbarer Energien mit Hauptsitz in Tokio, ein weiteres Beispiel.
Die Bewertungen vieler Unternehmen, die unter der Value-Rotation gelitten haben und in den vergangenen zwei Jahren massive Kursverluste hinnehmen mussten, sollten sich außerdem 2023 wieder erholen und somit eine Outperformance liefern. Wir sind zuversichtlich, dass das Gewinnwachstum für Titel wie Keyence Corporation, Daifuku sowie Food & Life nach der schwachen Performance der letzten beiden Jahre 2023 zu einem stärkeren Performancetreiber wird. So haben wir bereits im Januar erste Erholungen in den Bewertungen gesehen.
Schließlich gehen wir davon aus, dass sich der japanische Aktienmarkt auch im Jahr 2023 als eine starke Plattform für Investitionen in Asien erweisen wird. Die japanischen Unternehmen sind als Anbieter von Schlüsseltechnologien – von Automatisierungs- bis zu Halbleiterausrüstungen, von Elektromotoren bis zu Diagnoselösungen – stark im panasiatischen Markt engagiert. Unserer Ansicht nach hat Japan aufgrund seiner Geschichte, Geografie und Käuferverhalten stärkere aufstrebende Verbrauchermarken als das übrige Asien, die bei Liquidität, Unternehmensführung, Bilanzstärke und Börsenhistorie punkten.“
von Richard Kaye, Portfoliomanager für japanische Aktien bei der internationalen Fondsboutique Comgest