Ölpreise und Fracking
Seit dem Sommer sind die Ölpreise (WTI-Rohöl) um 30% gefallen, und zwar von über $106 pro Barrel Öl auf ungefähr $74 vor dem jüngsten Treffen der OPEC-Länder. Zu diesem Preiszerfall haben zwei spezifische Faktoren geführt. Erstens kam es, ausgelöst durch das sogenannte Fracking, zu einer deutlichen Angebotszunahme. Beim Fracking oder bei der hydraulischen Frakturierung wird mit hohem Druck eine Flüssigkeit in Gesteinsschichten gepumpt, sodass in diesen Risse entstehen. Diese Methode wird angewendet, um durch das Schiefergestein Öl und Erdgas zu gewinnen. Das moderne Fracking-Verfahren wurde erstmals 1998 angewendet, heute wird über 40% des Fracking in den USA ausgeführt. Durch diesen Boom stieg die Fördermenge in den USA auf das höchste Niveau seit drei Jahrzehnten, wodurch ein globales Überangebot von schätzungsweise zwei Millionen Barrel Öl pro Tag (oder dem Gegenwert von fünf OPEC-Staaten) entstand.
Der zweite Faktor, der zum Preiszerfall führte, ist die geringere Nachfrage nach Öl. Die chinesische Wirtschaft verlangsamt sich und Europa zeigt bestenfalls eine schwache Erholung. Gleichzeitig führten auch der generelle Trend zum Energiesparen und die Entwicklung von erneuerbaren Energien zu einer schwächeren Nachfrage. Indirekt hat auch der starke Dollar zu einer mäßigeren Nachfrage beigetragen; es ist teurer, in Dollar gerechnetes Öl in lokalen Währungen zu kaufen.
Vor diesem eher gedämpften Hintergrund haben sich die OPEC-Minister am Donnerstag, 27. November 2014, in Wien getroffen. Weit herum bestanden die Erwartungen, dass die Ölminister sich auf eine Reduzierung der Produktion einigen würden, um einen Boden für die Ölpreise zu schaffen, wie sie dies im Lauf der Jahre wiederholt gemacht haben. Stattdessen hat die OPEC an der Pressekonferenz bekannt gegeben, dass die Fördermenge nicht gekürzt werde und unverändert bei der Obergrenze von 30 Millionen Barrel Öl pro Tag bleibe.
Seit der Bekanntgabe der OPEC sind die Ölpreise unter $70, das tiefste Preisniveau seit September 2009, gefallen. Mittelfristige Erwartungen werden nun zurückgeschraubt, und die Öl-Terminpreiskurve zeigt für die nächsten zwei Jahre einen Preis pro Barrel Öl unter $80. Ohne eine gekürzte Fördermenge stehen die meisten Marktteilnehmer im nächsten Jahr nun einem durchschnittlichen Ölpreis von möglicherweise unter $70 gegenüber.
Die möglichen Auswirkungen auf die Aktienmärkte
In einem Umfeld, in dem die Ölpreise länger tief bleiben, wird es in einzelnen Unternehmen und Sektoren sowie auf regionaler Ebene sowohl Gewinner als auch Verlierer geben.
Sektoren wie die Basis- und Nicht-Basis-Konsumgüter sowie Fluggesellschaften könnten direkt von tieferen Energiepreisen profitieren. Auf regionaler Ebene sollten typische Öl-Importländer wie die meisten asiatischen Staaten einen Nutzen aus dieser neuen Situation ziehen können. Unternehmen, die typischerweise als „zinssensitiv“ wahrgenommen werden, könnten ebenso Auftrieb erhalten. Sollte das übrige Umfeld gleich bleiben, müsste ein Rückgang der Ölpreise tatsächlich helfen, die Inflation unter Kontrolle zu halten, und Handlungen von Zentralbanken zur Erhöhung der Leitzinssätze aufgrund der Wirtschaftserholung aufschieben.
Auf der Negativseite sind integrierte Ölkonzerne und, noch spezifischer, Öl-Dienstleistungsunternehmen besonders exponiert; in diesen Bereichen ist die Ertrags- und Cashflow-Sensitivität auf Ölpreise am höchsten. Große Ölkonzerne sind besser positioniert als kleine, stark fremdkapitalisierte Unternehmen, um sich vor dem Preisschock zu schützen. Auf Staatenebene könnten Wirtschaften, die einen beträchtlichen Teil ihres staatlichen Vermögens aus fossilen Brennstoffen generieren, von den Ölpreisen betroffen sein, wenn auch nur in Bezug auf die Marktstimmung (Länder wie Norwegen oder Russland). Es ist wichtig festzuhalten, dass wir in all unseren Aktienportfolios Rohstoffe (inklusive Energie) typischerweise untergewichten, womit jegliche weitere Schwäche in diesem Sektor der Performance zugutekommen wird.
Typischerweise konzentriert sich unsere Anlagestrategie auf eine Bottom-Up-Titelauswahl, und dies dank eines gründlichen Research-getriebenen Prozesses, in dem wir die Grundsätze und die relative Bewertung eines jeden Unternehmens beurteilen. Wir sind uns aber auch des makroökonomischen Hintergrundes bewusst, vor dem die Unternehmen operieren, und überprüfen entsprechend unsere Beteiligungen und das investierbare Universum regelmäßig, wenn die Marktbedingungen sich ändern. Angesichts des Beginns einer möglicherweise neuen Ölpreis-Ära beabsichtigen wir, die Investment Cases unserer Beteiligungen zu überprüfen. Ebenso werden wir – auch zum Nutzen unserer Anleger – unser Anlageuniversum auf sämtliche Gelegenheiten durchleuchten, die bei kurzfristigen Marktübertreibungen nach unten aus Bewertungsgründen entstehen könnten.
Luc Simoncini, Equity Product Specialist, Kames Capital