Die wilden 20er
Es gibt zwar keine Fransenkleider und keine Prohibition, aber es gibt heute Ähnlichkeiten mit den „Roaring 20s“, einem Jahrzehnt mit starkem Wirtschaftswachstum. Bei den aufgeschobenen Ausgaben besteht ein Nachholbedarf. Da die Geschäfte und Restaurants geschlossen und die Urlaubsreisen eingeschränkt waren, wurde weniger konsumiert (vor allem im Dienstleistungsbereich) und mehr gespart. Das könnte sich wieder ändern.
Eine schnellere Einführung von Technologien könnte zu einem höheren Produktivitätswachstum führen. Ebenso könnten die Unternehmen bereit sein, mehr Geld auszugeben. Viele von ihnen haben ihre Investitionen vergangenen Jahr reduziert, um Kapital und Liquidität zu sichern. Jetzt, da sich die wirtschaftliche Lage verbessert hat, können diese Unternehmen ihre Investitionsprogramme zur Kapazitätserweiterung wieder aufnehmen. Insbesondere Unternehmen, deren Lieferkette unterbrochen wurde, werden wahrscheinlich mehr in inländische Anlagen investieren, um ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber künftigen Schocks zu verbessern.
Eine weitere interessante Parallele zu den Zwanzigern sind die Infrastrukturausgaben. Vor einem Jahrhundert wurde die Massenproduktion von Fahrzeugen in der westlichen Welt alltäglich, was umfangreiche Infrastrukturinvestitionen wie Straßen und Brücken erforderte. Zur gleichen Zeit führte die Einführung von Telefonen dazu, dass Telefonleitungen über Kontinente hinweg verlegt wurden. Heute haben die Regierungen riesige Budgets zur Unterstützung der Energiewende und zur Erneuerung der maroden Infrastruktur bereitgestellt.
Ein Szenario der wilden 20er würde eine höhere Inflation und einen stärkeren Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt mit sich bringen. Risikoreiche Anlagen wären die bevorzugten Anlageklassen, während sichere Anlagen – insbesondere Staatsanleihen – unter Druck geraten könnten.
Inflationstrend
Die weltweite Inflation war in den letzten Jahrzehnten rückläufig, was auf die Globalisierung, den geringeren Lohndruck, den technologischen Fortschritt und die demografische Entwicklung zurückgeführt wird. Seit Anfang 2021 hat sich dieser Trend drastisch umgekehrt. Nun diskutieren Ökonomen, ob die Inflation für einen längeren Zeitraum hoch bleiben wird.
Eine strukturell höhere Inflation ist plausibel. Die Nachfrage hat sich im Allgemeinen als widerstandsfähiger erwiesen als ursprünglich befürchtet und die Unternehmen waren nicht in der Lage, die Produktion entsprechend zu steigern. Dies führt derzeit zu Unterbrechungen der Versorgungskette, zusätzlich zu den Störungen im Zusammenhang mit Covid-19, was zu vorübergehenden Engpässen und höheren Preisen führt.
Gleichzeitig haben die Zentralbanken eine lockere Geldpolitik verfolgt. Wenn die geschaffene Liquidität ihren Weg in die Realwirtschaft findet, könnte dies zu einer Inflation führen. Die Lohninflation nimmt aufgrund der angespannten Lage und der Spannungen auf dem Arbeitsmarkt zu. Auch die Unternehmen sehen sich mit höheren Kosten konfrontiert: zum einen durch die Umkehrung der Auslagerung in Niedriglohnländer, da die Pandemie die Anfälligkeit komplexer und internationaler Lieferketten offenbart hat, zum anderen aber auch durch groß angelegte Investitionspläne zur Verbesserung der Infrastruktur und zur Förderung erneuerbarer Energien.
In einem Inflationsszenario würden wir erwarten, dass Vermögenswerte mit einer positiven Inflationsbindung, wie Rohstoffe, gut abschneiden. Wir gehen davon aus, dass die politischen Entscheidungsträger bei einer anhaltenden Inflation handeln werden, indem sie die Programme zum Ankauf von Vermögenswerten zurückfahren und die Leitzinsen anheben. In diesem Fall würden die Zinssätze für Staatsanleihen steigen, was zu negativen Renditen für Staatsanleihen führen würde. Aktien könnten sich kurzfristig als volatil erweisen, sollten sich aber mittelfristig gut entwickeln.
„Japanisierung“
Das vielleicht düsterste Szenario ist ein schwaches Wirtschaftswachstum, niedrige Inflation und niedrige Zinssätze, ähnlich wie in Japan in den 1990er Jahren, als das Land in sein „verlorenes Jahrzehnt“ eintrat. Das Wachstum könnte sich als enttäuschend erweisen, wenn eine neue impfstoffresistente Variante auftaucht oder sich die Weltwirtschaft als stärker angeschlagen erweist als derzeit erwartet. Ein Rückgang des BIP oder eine langsame Erholung dürfte sich disinflationär auswirken, da die Arbeitslosigkeit höher und die Kapazitätsauslastung geringer sein wird. Da die Zinssätze bereits niedrig sind, werden die Zentralbanken nur begrenzte Möglichkeiten haben, um die Inflation wieder auf ihre Ziele zu bringen.
Obwohl Japans Geschichte einzigartig ist, gibt es zwei Faktoren, in denen sich die westliche Welt und Japan ähneln: die hohe Staatsverschuldung und die schwache Demografie. Auch wenn die „Japanisierung“ eine unwahrscheinliche Option bleibt, ist sie dennoch möglich.
In einem Szenario wie in Japan werden die Zentralbanken die Leitzinsen niedrig halten, um die Inflation und das Wirtschaftswachstum zu stützen. In diesem Szenario werden die Realzinsen – trotz der niedrigen Inflation – niedrig oder sogar negativ bleiben. Vermögenswerte, die von niedrigen Zinsen profitieren, wie z. B. Staatsanleihen mit langer Laufzeit, dürften sich gut entwickeln. Aktien hingegen hätten mit Gegenwind zu kämpfen.