Die Inflation sorgt weltweit weiter für Unruhe. Die Verbraucher müssen sich jedoch mit einer hohen Inflation und Energiekrise arrangieren. Die negativen Folgen dieser Entwicklungen werden das Ausmaß der kommenden Rezession bestimmen – nicht der Verlauf der Zinserhöhungen. Die Aufmerksamkeit sollte sich von der heutigen Inflation und der Frage, was die Zentralbanken dagegen tun sollten, auf die Auswirkungen auf das Verbraucherverhalten von morgen richten. Mit anderen Worten: Wie groß ist die bevorstehende Rezession?
Monatliche Inflationsdaten, die etwas höher oder niedriger als erwartet ausfallen, werden an dieser Realität nichts ändern. Die Zentralbanken befinden sich bereits im schnellsten Straffungszyklus seit Jahrzehnten. Wirtschaftswissenschaftler interessieren sich für das, was morgen passiert, sind sich aber des Recency Bias bewusst. Dabei handelt es sich um eine kognitive Verzerrung, die Menschen dazu veranlasst, aktuelle Ereignisse gegenüber historischen Ereignissen zu bevorzugen und in den Mittelpunkt zu stellen.
Das richtige Erkennen des Recency Bias kann Ökonomen enorm helfen. Die Geschichte ist ein Wegweiser, aber sie zu nutzen, ohne die aktuellen Entwicklungen zu hinterfragen, kann durchaus problematisch sein. Ein gutes Beispiel dafür ist die Diskussion über die Inflation im letzten Jahr und wie die Zentralbanken anfangs damit umgingen. Diese sahen die Inflation in letzter Zeit auf einem niedrigen Niveau und nahmen an, dass der plötzliche Anstieg nur vorübergehend sein würde. Heute wissen wir, dass dies eine falsche Annahme war. In Anbetracht des derzeitigen inflationären Umfelds ist es wichtig zu hinterfragen, wie dies die Wahrnehmung und damit den Recency Bias in Zukunft beeinflussen wird und wie die Verbraucher reagieren werden.
Was die aktuellen wirtschaftlichen Bedingungen betrifft, so wird die hohe Inflation mit Sicherheit tiefgreifende Auswirkungen haben. Die derzeitige hohe Inflation wird sich langfristig auf die Preiswahrnehmung der Verbraucher auswirken.
Wie groß ist die bevorstehende Rezession?
Wir haben es immer noch mit einer Energiekrise zu tun. Dieser Teil des Inflationsproblems ist noch nicht gelöst, ob mit oder ohne Preiserhöhungen. Die Erdgaspreise waren bis in die jüngste Vergangenheit in Europa vier- bis sechsmal so hoch wie in den USA. Das entspricht einem Preis von 78 Dollar für ein Barrel Öl (WTI) in den USA, während die Eurozone zwischen 312 und 468 Dollar zahlen muss – das wird die Wirtschaft schädigen.
Die globale Finanzkrise von 2008, die Staatsschuldenkrise von 2012, die Covid-Krise von 2020 und die Energiekrise von 2022/2023 sind vier Krisen, die die Eurozone seit der Jahrtausendwende erlebt hat. Keine davon kann als eine "milde" Rezession bezeichnet werden.
Dennoch sind einige Prognostiker auch heute noch bereit zu behaupten, dass Europa auf dem Weg in eine leichte Rezession ist. Das ist reines Wunschdenken. Für diese Prognosen scheint die Geschichte keine Hilfe zu sein. Betrachtet man die Weltwirtschaft und geht davon aus, dass eine Kette nur so stark ist wie ihr schwächstes Glied, so ist die Eurozone eindeutig das schwächste Glied in der globalen Wirtschaftskette. Mit dem nahenden Winter wird sie weiter geschwächt. Ihr sollte daher die größte Aufmerksamkeit gewidmet werden, mehr als dem Weg der Zentralbankerhöhungen.
Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen
Während eine heftige Debatte darüber geführt wird, wie hoch der Leitzins der Fed im Kampf gegen die Inflation ansteigen sollte, geht dieses Argument am Kern der Sache vorbei. Während einige meinen, die Fed stehe kurz vor dem Abschluss ihres Zinserhöhungszyklus, argumentieren andere, dass noch deutlich mehr nötig sei. Wir sollten jedoch versuchen zu verstehen, was die politischen Entscheidungsträger tun werden und nicht, was sie tun sollten. In den USA hoffen die Wall Street, die Main Street und das Weiße Haus darauf, dass die Fed eine sanfte Landung der Wirtschaft herbeiführt. Die Zeit wird zeigen, ob dies Wirklichkeit wird. Die Dominanz des US-Finanzsektors in der Weltwirtschaft und damit die Auswirkungen der Fed-Politik auf den Rest der Welt ist eine Sache, aber die Bedeutung der Fed-Politik sollte gegenüber größeren Problemen, insbesondere in Europa, zweitrangig sein.
Was hätte eine schädlichere Wirkung auf die Weltwirtschaft? Eine leichte Rezession in den USA aufgrund der Zinserhöhungen der Fed oder eine langanhaltende Energiekrise in der Eurozone und die daraus resultierenden Auswirkungen auf die dortige Wirtschaft? Alle Augen richten sich auf den kommenden Winter 23/24, aber ist Europa darauf vorbereitet? Der Anteil der Wirtschaft der Eurozone an der Weltwirtschaft ist zwar geringer (ca. 15 %) als der Anteil der US-Wirtschaft (ca. 24 %), jedoch ist die Verflechtung der Eurozone mit der Weltwirtschaft unter dem Gesichtspunkt des Welthandels dramatisch höher. Auf die EU entfallen fast 30 % des Welthandels, während der Anteil der USA nur 10 % beträgt.
Daraus folgt, dass ohne eine Lösung der Energiekrise die sich daraus ergebende Änderung des Verbraucherverhaltens und die dadurch ausgelöste Rezession für die Weltwirtschaft wohl von viel größerer Bedeutung ist als die Geldpolitik der Fed. Auf der Suche nach einem Anhaltspunkt dafür, wie schlimm es sein könnte, sind die beiden wichtigsten Fragen, die zu berücksichtigen sind:
1. Wie heftig wird der Winter sein, d.h. wie kalt?
2. Wie werden die Bemühungen der Regierungen in Europa, die hohen Gaspreise zu senken, das Verbraucherverhalten beeinflussen?
Diese Fragen sind für die Eurozone und damit für die globale Wirtschaftsentwicklung mindestens genauso wichtig wie die Folgen der Fed-Erhöhungen. Wer über Zinserhöhungen der Fed streitet, sieht den (Energiekrisen-)Wald vor lauter (Inflations-)Bäumen nicht.
von Serdar Kucukakin, Anleiheanalyst bei Aegon Asset Management