Ist die deutsche Wirtschaft ein Auslaufmodell?

Benjardin Gärtner, Leiter Portfoliomanagement Aktien bei Union Investment, wirft einen Blick auf die Zukunftsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und ihrer Unternehmen: Union Investment | 23.05.2016 11:37 Uhr
Benjardin Gärtner, Leiter Portfoliomanagement Aktien, Union Investment / ©  Union Investment
Benjardin Gärtner, Leiter Portfoliomanagement Aktien, Union Investment / © Union Investment
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"Glaubt man den Pessimisten, dann steht es schlimm um die hiesige Wirtschaft. Die Maschinenbauer werden von der chinesischen Konkurrenz verdrängt, die Automobilindustrie beschränkt sich darauf, Teile in die USA zu verschiffen, die Google, Apple oder Unternehmen, die wir heute noch gar nicht kennen, in ihren neuartigen und innovativen Fahrzeugen verbauen. Finanzdienstleistungen finden dezentralisiert und maßgeschneidert im Internet statt, und das Zeitalter der Virtual Reality macht dem Geschäft mit Businessreisenden den Garaus, weil wir uns etwa für Konferenzen die Gesprächspartner ruckzuck dreidimensional in die Spezialbrille laden. Dementsprechend wird es eng für die hiesigen Unternehmen, und die Namen im DAX – einst Wegmarken deutschen Erfindergeists – laufen Gefahr, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Der deutsche Aktienindex, ein Abbild vergangenen Glanzes? Ein Index von gestern?

Nun, so schlimm ist es sicher nicht. Ganz nüchtern betrachtet bildet der DAX die größten in Deutschland gelisteten Aktiengesellschaften ab und ist damit ein Spiegel der deutschen Unternehmenslandschaft. Tatsache ist, dass der Schwerpunkt und die Stärke der deutschen Wirtschaft in Bereichen liegen, die gemeinhin der Old Economy zugerechnet werden. Dabei wird unterschätzt, wie groß und mächtig diese Wirtschaftszweige sind – und wie konsequent die meisten der Schwergewichte auch mit Erfolg versuchen, sich auf den traditionellen Geschäftsfeldern zu behaupten, ohne die künftigen Herausforderungen aus dem Blick zu verlieren. Überdies hat der DAX sich in der Vergangenheit durchaus gewandelt: Einstmals eminent wichtige Sektoren wie Banken und Energieversorger haben in der Struktur des Index stark an Bedeutung verloren.

Trotz aller Schwierigkeiten: Verstecken müssen sich die deutschen Konzerne nicht. Weder vor der Konkurrenz noch vor den Bedrohungen der Zukunft. Rund 4.000 Unternehmensgespräche, die die Portfoliomanager von Union Investment im Jahr führen, bestätigen den Eindruck. Das Gros der Adressen ist sich der kommenden Herausforderungen  bewusst und stellt sich darauf ein. Das gilt nicht nur, aber in besonderem Maße für den Automobilsektor, der im DAX großen Raum einnimmt und für gut ein Drittel der Gewinne im Index steht. 

Totgesagte Autobranche  

Der Sektor, schon vor 20, 30 Jahren totgesagt angesichts der Bedrohung durch die japanische Konkurrenz, hat in den vergangenen Jahren seine Ausgaben für Forschung und Entwicklung um rund ein Viertel auf 20 Milliarden Euro im Jahr 2015 gesteigert. Die Forschungsausgaben der deutschen Unternehmen im Ausland bewegen sich ebenfalls auf einem zweistelligen Milliardenniveau. Etwa jeder zehnte Arbeitsplatz der Automobilindustrie hat mehr oder minder direkt mit Forschung und Entwicklung zu tun. Schätzungen zufolge stammt jeder dritte Euro, der weltweit für automobiles „Research & Development“ ausgegeben wird, von den deutschen Konzernen.

Das Geld geht zu einem Gutteil in eben die Schlüsseltechnologien, für die die US-Konkurrenz so gefeiert wird: Intelligente, hocheffiziente Antriebssysteme, automatisiertes Fahren und Digitalisierung der Mobilität. In vielen Unternehmen arbeiten die Teams, die sich mit der Mobilität der Zukunft beschäftigen, fernab der Konzernzentralen, um neue Gedanken frei und unbeeinflusst entwickeln zu können. Darüber hinaus werben die Großen der Branche auch gezielt Experten von der IT-Konkurrenz aus Kalifornien ab – nicht nur vereinzelt, sondern gelegentlich in Hundertschaften. BMW beispielsweise plant im laufenden Jahr, 500 Software-Experten einzustellen und dabei auch konkret bei Google und Konsorten zu wildern. Wenig deutet darauf hin, dass sich die BMWs oder Daimlers dieser Welt den Angriffen der Konkurrenz schutzlos ausliefern. In anderen Bereichen sieht es nicht anders aus. Unternehmen wie BASF und Bayer haben in ihrer Geschichte einige Krisen gemeistert – manche mit Bravour, bei anderen haben sie Federn gelassen. Die deutschen Unternehmen, die in ihrer Branche Spitze sind, werden so schnell nicht verdrängt. Das liegt nicht zuletzt an der Qualität der Produkte, auf die weltweit doch meist zurückgegriffen wird, wenn Präzision gefragt ist.

Erfolgsfaktor Vertriebsnetz

In der Chemie, im Maschinenbau, im Technologiebereich dauert es Jahrzehnte, um ein leistungsfähiges Vertriebs- und Servicenetz aufzubauen. Hier zählen neben vielen weiteren Faktoren auch die Qualität der Geschäftsbeziehung, Verlässlichkeit, Vertragstreue. Das mag zwar angesichts der Vision, dass wir alle bald die Umwelt nur noch per Datenbrille wahrnehmen, unglaublich altmodisch klingen, kann aber im globalen Wettbewerb trotzdem entscheidend sein. Diese Stärken müssen seitens der deutschen Konzerne weiter gepflegt und intensiviert werden. Das gilt umso mehr, wenn die qualitativen Unterschiede zwischen „Made in Germany“ und „Made in China“ weiter zusammenschrumpfen.

Gleichwohl: Zurücklehnen ist sicher nicht angesagt. Mit der Wucht der neuen Technologien, dem Auseinanderbrechen der alten Wertschöpfungsketten und der immer stärker werdenden Konkurrenz quer durch alle Sektoren wird die Luft dünner für die deutschen Unternehmen. Die Ertragslage, vor allem aber die Margen erodieren, wenn die Preissetzungsmacht der deutschen Platzhirsche nachlässt. Umso wichtiger ist es, dass die Hausaufgaben in der Bilanz gemacht werden. Der Fokus der Management-Teams richtet sich daher zunehmend auf die Kostenstruktur in den Unternehmen. Wenn die stimmt, dann lässt es sich auch weiterhin quer durch alle Branchen profitabel arbeiten. Dass die mediale Berichterstattung derzeit voll von Berichten über Restrukturierungsprogramme ist, zeugt davon, dass die Konzernlenker wissen, dass sie sich warm anziehen müssen.

Vorteil USA

Die Hoffnung, dass die Wirtschaft hierzulande über Nacht eine Vormachtstellung im IT-Sektor übernimmt und Deutschland seine Schlüsselrolle von der globalen Old in die globale New Economy transferiert, ist nicht angebracht. Ein Mini-Silicon-Valley, das in der Lage ist, dem Original das Wasser abzugraben, die Bedrohungen aus Kalifornien abzuwehren oder gar selbst globale Schlüsselindustrien in Gefahr zu bringen, wird in Deutschland so schnell nicht entstehen. Die Gründe dafür sind so banal wie zutreffend: Erstens herrscht in den USA ein anderer Gründergeist, der unter anderem dadurch genährt wird, dass unternehmerisches Scheitern nicht als persönliche Niederlage ausgelegt wird. Zweitens gibt es in den USA eine umtriebige Private Equity- und Venture Capital-Szene, die davon lebt, gute Ideen zu entdecken, zu fördern und am Ende die Hand aufzuhalten – wenn alles gut gegangen ist. Dass auch die erfolgreichsten Kapitalgeber in den USA schon extrem viel Geld in nur vermeintlich brillante Geschäftsmodelle gesteckt und versenkt haben, wird dabei zu oft übersehen. Drittens verfügen die US-Unternehmen über einen Startvorteil, weil sie einen sehr homogenen Markt mit gut 300 Millionen potenziellen Kunden gleichsam vor der Haustür haben. Und viertens findet die relevante Forschung hinsichtlich neuer Technologien überwiegend in den USA statt.

Die Ideen werden dort vermarktet, wo die Köpfe sind. Und die deutsche Expertise wandert mittlerweile an die US-Unis. Verglichen mit dem öffentlich finanzierten deutschen Hochschulsektor herrscht in den Vereinigten Staaten auch hinsichtlich der akademischen Leistungsfähigkeit ein wesentlich härterer Wettkampf, der Spitzenkräfte und Spitzenforschung adäquat fördert und kultiviert.

Ganz davon abgesehen, befinden sich in Deutschlands Unternehmenslandschaft auch wenig Namen, die in der Lage wären, den Markt aufzurollen – oder es sind Hidden Champions, die in Nischen wie beispielsweise Architektursoftware unangefochten sind. Adressen mit Breitenwirkung und dem Potenzial zum Massengeschäft sind in der zweiten Reihe rar. Das Beispiel Zalando zeigt, dass sie aber durchaus vorhanden sind. Wer aus dem Mittelfeld – wie seinerzeit SAP aus Walldorf – global mit einem durchschlagend neuen digitalen oder IT-basierten Geschäftsmodell nachhaltig auf sich aufmerksam machen könnte, ist kaum zu erahnen. Substanzielle Zuwächse kann der Sektor trotzdem verzeichnen. Der Umsatz mit Informationstechnologie, Telekommunikation und Unterhaltungselektronik wird nach Branchenschätzungen im laufenden Jahr erstmals die Marke von 160 Milliarden Euro überspringen. Viel Geld für eine Branche, die sich hierzulande zu Recht etwas vernachlässigt fühlt. Zum Vergleich: Apples Umsatz stieg im vergangenen Jahr auf 234 Milliarden Dollar. Im globalen Maßstab mag man den deutschen IT-Markt daher sehr klein finden. Zieht man das Vergleichsraster aber kleiner, ist Deutschland auch hier ein relevanter Player und macht immerhin ein Viertel des europäischen Gesamtmarktes aus. Analysten prognostizieren ein Wachstum im zweistelligen Prozentbereich – nicht nur, aber auch in zukunftsträchtigen Bereichen wie Big Data und Internet Security. Vieles davon findet im vielgerühmten Mittelstand statt. Die Fortschritte hier sollten aber dem Standort auch für größere Namen zuträglich sein.

Was bleibt also? Der Blick auf die Bedrohungen der Vergangenheit zeigt, dass es den deutschen Unternehmen in Summe gut gelungen ist, mit der Zeit Schritt zu halten und beispielsweise den japanischen Autobauern nicht das Feld zu überlassen. Es ist eine Binsenweisheit, aber sie ist trotzdem wahr: Die Erfolge von gestern zählen an der Börse nicht. Gefragt sind heute wie eh und je Adressen mit schlüssigen und vor allem zukunftsfähigen Geschäftsmodellen. Hier gibt es für die deutschen Konzerne ohne Frage sehr viel zu tun, um ihre Produktpalette und ihre Kostenstrukturen fit für veränderte, wettbewerbsintensivere Zeiten zu machen. Nicht jedes Unternehmen, das heute im DAX steht, wird seine Berechtigung für den Large Cap Index in zehn Jahren noch haben. Da wird es heutigen Blue Chips nicht anders gehen als in der Vergangenheit klangvollen Namen der deutschen Wirtschaftsgeschichte wie Deutsche Babcock oder Feldmühle Nobel.

Trotz der Herausforderungen und Bedrohungen von vielen Seiten: Die Unternehmen im DAX sind keinesfalls dem Untergang geweiht. Aber es wird schwer, die oft sehr guten Zahlen aus der Vergangenheit fortzuschreiben. Das gilt für die Erträge, es gilt aber vor allem für Profitabilitätskennziffern wie etwa die Marge. Die Botschaft ist in den Unternehmen angekommen, und die meisten Adressen geben Vollgas, um den neuen technologischen und ökonomischen Spielregeln in der Ausrichtung ihrer Geschäfte Rechnung zu tragen. Das belegt nicht zuletzt der immense Aufwand, den deutsche Unternehmen für Forschung und Entwicklung betreiben. Nicht alle Adressen werden in einer sich stetig veränderten Welt anhaltend Erfolg haben können. Aber es ist eben auch diese Wandlungsfähigkeit, die die besten Unternehmen von den zweitklassigen unterscheidet."

Benjardin Gärtner, Leiter Portfoliomanagement Aktien und Mitglied des Union Investment Committee

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