Die Hoffnungen vieler Anleger auf eine Beruhigung an den europäischen Finanzmärkten nach dem marktfreundlichen Ausgang der französischen Präsidentschaftswahl waren wohl verfrüht. Denn obwohl der Wahlsieg Emmanuel Macrons den Zusammenhalt des europäischen Staatenbundes zweifelsohne festigen dürfte, sind die politischen und wirtschaftlichen Probleme in anderen Ländern Europas noch lange nicht gelöst. Einer der Unruheherde, der an den Börsen des Euroraums von Zeit zu Zeit gehandelt wird, hat einen bekannten Namen: Italien.
Vorgezogene Neuwahlen scheinen vom Tisch
Lange Zeit schwebte die Gefahr vorgezogener Neuwahlen wie ein Damoklesschwert über dem südeuropäischen Land. Die Angst der Märkte stieg im Mai sprunghaft an, als sich die großen Parteien im seit Monaten schwelenden Streit um die Reform des italienischen Wahlrechts überraschend einigen konnten: In beiden Kammern – also sowohl in der Abgeordnetenkammer als auch im Senat – sollte künftig nach der gleichen Art abgestimmt werden. Rom strebte dabei ein Wahlsystem nach deutschem Vorbild an. So hatten sich die großen Parteien gleichzeitig für eine Sperrklausel von fünf Prozent ausgesprochen – eine wichtige Bedingung, die zu einer deutlich stabileren politischen Situation in Italien beitragen sollte. Denn das italienische Parteiensystem ist durch viele kleinere Splitterparteien stark fragmentiert. Und in den vergangenen Jahrzehnten wurde Italien diese Vielzahl der Kleinparteien immer wieder zum Verhängnis, weil sie die Koalitionsbildung erschwerten und bestehende Regierungen destabilisierten.
Bevor das neue Wahlrecht aber den beiden Parlamentskammern überhaupt zur Abstimmung vorgelegt werden konnte, ist der Pakt der großen italienischen Parteien – Partito Democratico (PD), Forza Italia (FI), MoVimento 5 Stelle (M5S, „Fünf-Sterne-Bewegung“) und Lega Nord (LN) – wieder geplatzt. In einer geheimen Abstimmung über vorbereitende Aspekte des neuen Gesetzes stimmten zahlreiche Abweichler gegen den vereinbarten Reformentwurf. Damit ist ein frühzeitiger Urnengang vom Tisch. Denn bevor in Rom überhaupt vorgezogene Neuwahlen stattfinden können, muss Staatspräsident Sergio Mattarella das Parlament auflösen. Mattarella hatte zuletzt aber immer wieder betont, dass er auf einer Reform des Wahlgesetzes besteht, bevor er den Antrag auf vorgezogene Wahlen genehmigt.
Mit dem Scheitern der Wahlrechtsreform ist die Nervosität an den Märkten wieder etwas zurückgegangen. Denn damit ist auch eine Regierungsbeteiligung radikalerer Kräfte vorerst vom Tisch: Da die „Fünf-Sterne-Bewegung“ in den vom Forschungsinstitut ixè durchgeführten Umfragen zuletzt auf Augenhöhe mit der linksliberalen PD lag, fürchteten viele Investoren einen Wahlsieg der eurokritischen M5S, die den Austritt aus dem Währungsraum und die Rückkehr zur Lira anstrebt. Doch diese Pläne erhielten zuletzt einen Dämpfer: Bei der ersten Runde der Kommunalwahlen Mitte Juni schaffte es in den wichtigsten Städten keiner der Bürgermeisterkandidaten von M5S in die Stichwahl.
Dennoch hat Italien durch das erneute Scheitern der Wahlrechtsreform eine weitere Chance auf strukturelle Fortschritte vertan. Den ixè-Umfragen zufolge hätten zumindest kleinere Splitterparteien kaum Chancen auf einen Einzug ins Parlament gehabt. Ein Bündnis der Mitte zwischen Renzis linksliberaler Partito Democratico und Berlusconis Mitte-Rechts-Partei Forza Italia wäre damit wieder wahrscheinlicher geworden.
Rückführung der Anleihekäufe durch Europäische Zentralbank
Unabhängig von der politischen Unsicherheit sorgen auch strukturelle Entwicklungen dafür, dass sich der wirtschaftliche Druck auf Italien erhöhen dürfte. Denn angesichts der guten konjunkturellen Entwicklung im Euroraum zeichnet sich ab, dass die Europäische Zentralbank (EZB) die geldpolitischen Zügel in Zukunft anziehen wird. Bereits auf ihrer Juni-Sitzung haben die Notenbanker ihre Konjunkturprognosen erhöht und im begleitenden Kommuniqué auf Hinweise bezüglich weiterer Zinssenkungen – wie es auf vergangenen Sitzungen der Fall war – verzichtet. Diese veränderte Kommunikation wurde von den Märkten als erster Fingerzeig gedeutet, dass eine geldpolitische Straffung bevorsteht. Schon im September könnten Taten folgen: Dann dürfte Mario Draghi die weitere Reduzierung der monatlichen Wertpapierkäufe („Tapering“) ankündigen. Ab Januar 2018 sollten die Maßnahmen greifen und das monatliche Ankaufvolumen verringert werden. Die Konsequenzen für das hochverschuldete Italien dürften beträchtlich sein: Die Anleiherenditen des Landes könnten empfindlich ansteigen, da die Zentralbank als einer der wichtigsten Käufer der Anleihen des Landes dann wegfallen wird.
Trotz Fortschritten: Bankensektor bleibt Achillesferse Italiens
Ein großer Hemmschuh Italiens bleibt auch die Schwäche des Bankensektors, der die Wirtschaft und die öffentlichen Finanzen des Landes gefährdet. Die zum Jahresbeginn 2017 von der Bankenaufsicht regulatorisch geforderte Aufnahme frischen Kapitals ist den italienischen Instituten mit unterschiedlichem Erfolg gelungen: Während bei der krisengeplagten Großbank Unicredit die Trendwende geglückt zu sein scheint, läuft es bei der ältesten Bank der Welt – der Monte dei Paschi di Siena (MPS) – weniger gut. Nachdem das Institut mit dem Unterfangen scheiterte, sich bei privaten Investoren frische Sanierungsmittel zu besorgen, sprang die italienische Regierung ein, um die Bank mit Staatshilfen zu retten. Damit Monte dei Paschi di Siena dieses Geld überhaupt erhalten darf, musste die Europäische Union (EU) dem Rettungsplan zustimmen – die hat Anfang Juni nach zähem Ringen endlich grünes Licht gegeben. Berechnungen der EZB zufolge beläuft sich der Kapitalbedarf von MPS auf 8,8 Milliarden Euro. Bedingung für die Zustimmung der EU zum Rettungsplan ist ein weitreichender Umbau der Bank. Dadurch sollen zum Beispiel die Bilanzen von faulen Krediten gesäubert werden. Noch keine Einigung gibt es für einige der angeschlagenen regionalen Inlandsbanken wie Veneto Banca oder Banca Popolare di Vicenza. Ob der Staat auch diesen Instituten unter die Arme greifen wird, ist fraglich. Um die Anwendung der neuen europäischen Regeln zur Bankenabwicklung zu verhindern, steigt die Gefahr, dass Italien eine Zerschlagung der in Schieflage geratenen Regionalbanken anstreben wird.
Fehlende Reformimpulse begrenzen Potenzialwachstum
Auch wenn die Regierung in Rom einige kleinere Reformen auf den Weg gebracht hat, wird Italien nur mit weiteren tiefgreifenden Strukturreformen seine Wettbewerbsfähigkeit verbessern und damit das Potenzialwachstum erhöhen können. Union Investment rechnet für das laufende Jahr mit einem Wirtschaftswachstum von 1,3 Prozent. Auch 2018 wird das Bruttoinlandsprodukt wohl nicht mehr als 1,1 Prozent zulegen. Damit bleibt Italien deutlich hinter der Wachstumsdynamik der Eurozone und anderer vormaliger Krisenländer zurück. Als Konsequenz droht in den kommenden Jahren – wie schon in den Jahren 2008 bis 2016 – ein weiterer gradueller Anstieg der Staatsverschuldung, der die langfristige Schuldentragfähigkeit Italiens zunehmend in Frage stellen dürfte.
Bislang versucht die Regierung in Rom, allein über eine nachhaltige Senkung der Zinslast eine stabile beziehungsweise leicht sinkende Schuldenquote sicherzustellen. Tatsächlich hat das südeuropäische Land das günstige Refinanzierungsniveau in den vergangenen Jahren verstärkt dazu genutzt, um langlaufende Anleihen zu recht günstigen Zinssätzen zu emittieren. Damit konnten die Refinanzierungskosten zumindest teilweise vermindert werden. Ein Anstieg des Zinsniveaus sollte damit zwar kein unmittelbares Problem für die Schuldentragfähigkeit des Landes darstellen – allerdings würde sich eine allmähliche, schleichende Verschlechterung der Haushaltslage einstellen.
Politische Unsicherheit klingt vorerst ab
Dass die Nervosität an den Kapitalmärkten trotz der andauernden strukturellen Probleme zuletzt zurückgegangen ist, liegt im Wesentlichen an den bevorstehenden Diskussionen um den italienischen Haushalt: Bis zum 27. September muss Rom das Budget für das kommende Jahr 2018 ausarbeiten und aufstellen. Bereits wenige Tage später erwartet die EU-Kommission in Brüssel die Vorlage des Staatshaushalts. Durch vorgezogene Neuwahlen wäre dieser zeitliche Rahmen kaum zu halten, die finanzielle Stabilität Italiens mithin in Gefahr gewesen. Die amtierende Regierung um Premierminister Paolo Gentiloni bleibt nun bis zum Ablauf der Legislaturperiode im Frühjahr 2018 im Amt. Gentiloni kann sich auf eine ausreichende parlamentarische Mehrheit stützen, um noch vor dem Beginn des Wahlkampfs den Haushalt zu beschließen. Das gilt in weiten Teilen auch für die zu erwartende Bürde aus dem sogenannten Stabilitätsgesetz: Der nach dem Verfassungsreferendum im Dezember 2016 verabschiedete Erlass sieht vor, dass die Mehrwertsteuer ab 2018 um drei Prozentpunkte auf 25 Prozent angehoben wird. Mit dem im Eilverfahren abgesegneten Gesetz wollte die Regierung in Rom der EU-Kommission entgegen kommen, um im Ernstfall auf höhere Steuereinnahmen setzen zu können.
Der Risikofokus liegt auf Italien
Fazit
Mit dem erneuten Scheitern der Wahlrechtsreform ist die Gefahr vorgezogener Neuwahlen in Italien vorerst vom Tisch – die strukturellen Probleme des Landes bleiben jedoch. Mit der Drosselung der Anleihekäufe der EZB wird in den kommenden Monaten und Jahren ein wichtiger stützender Pfeiler für die finanzielle Stabilität Italiens wegfallen. Hierdurch könnten erneut Diskussionen um die hohen Staatsschulden entfacht werden. Nur wenn es Italien gelingt, die strukturellen Probleme anzugehen, kann das Land auf mittlere Sicht seine Wettbewerbsfähigkeit und sein Potenzialwachstum steigern und so wieder zu einer tragenden wirtschaftlichen Säule der Eurozone zu werden.