In fast allen weltwirtschaftlich wichtigen Regionen dürfte das Wachstum zurückgehen. „Wir rechnen in den USA noch mit einem Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts von 2,5 Prozent für 2019, im Folgejahr mit gerade einmal 1,6 Prozent. Das wird die Weltwirtschaft deutlich bremsen“, prognostiziert Wilhelm. Für die Eurozone erwartet der Kapitalmarktstratege ebenfalls eine Verlangsamung. „Sowohl 2019 als auch 2020 dürfte das Wachstum nur um die Ein-Prozent-Marke liegen.“ Für Deutschland geht er im laufenden Jahr von 0,7 Prozent aus, gefolgt von 1,0 Prozent für das Jahr 2020.
Handelsstreit weiter ungelöst
Bremseffekte gehen dabei weiter von den handelspolitischen Auseinandersetzungen zwischen den USA und China aus. „Hinter dem Handelsstreit steht der hegemoniale Konflikt zwischen zwei Supermächten. Es geht um weit mehr als Zölle“, erläutert Wilhelm. „Eine Eskalation ist nicht auszuschließen.“ Diese Sorge schwebt bereits heute über vielen unternehmerischen Entscheidungen und belastet den Welthandel, der 2019 nur um 1,5 Prozent zulegen dürfte. „Damit fällt ein wichtiger Wachstumsbeschleuniger für Exportnationen wie Deutschland weg“, sagt Wilhelm.
Zinssenkungen in USA und Euroraum zu erwarten
Bei den Zentralbanken hat daher bereits ein Umdenken eingesetzt. „Leitzinsanhebungen sind für die kommenden zwei Jahre vom Tisch“, meint Wilhelm. Er geht vielmehr von baldigen Lockerungen aus. „Die US-Notenbank Fed wird bis September die Zinsen um 50 Basispunkte senken.“ Auch von der Europäischen Zentralbank (EZB) sind Maßnahmen zu erwarten. „Der gesamte Zinskorridor dürfte spätestens im September um zehn Basispunkte gesenkt werden“, erwartet Wilhelm. Um die Auswirkungen der negativen Einlagenzinsen auf die Geschäftsbanken abzufedern, hält er die Einführung von Freibeträgen nach dem Vorbild der Schweizerischen Nationalbank für angemessen – gefolgt von einer weiteren Leitzinssenkung im Dezember um 25 Basispunkte. „Sollte das alles nicht reichen, ist auch die Wiederaufnahme der Anleihekäufe durch die EZB kein Tabu.“
Niedrigrenditeumfeld zementiert
Im Ergebnis sieht Wilhelm das Niedrigrenditeumfeld zementiert: „Mit steigenden Zinsen ist auf mittlere Sicht nicht zu rechnen.“ Bei Bundesanleihen mit zehnjähriger Laufzeit liegt die Renditeprognose von Union Investment beispielsweise bei minus 0,4 Prozent zum Jahresende. „Dieses Niveau dürfte sich bis zur Jahresmitte 2020 kaum verändern. Die Zinsen bleiben im tiefroten Bereich“, sagt der Anlagestratege. „Wir haben in der Eurozone de facto japanische Verhältnisse.“ Auch in den USA werden weiter sinkende Renditen erwartet, bei zehnjährigen US-Staatsanleihen etwa bis auf 1,9 Prozent Ende 2019.
Staatspapiere sicherer Schuldner versprechen demnach mittelfristig keine großen Gewinne mehr, sollten die Renditen kurzfristig nicht noch stärker sinken. Ausgewählte Papiere aus der europäischen Peripherie stuft Wilhelm hingegen als interessant ein, rät aber zur Vorsicht bei der Emittentenauswahl. „Wir favorisieren griechische und spanische Staatsanleihen. In beiden Ländern sinkt die Staatsverschuldung.“ Auf italienischen Anleihen lastet dagegen die Stagnation der italienischen Wirtschaft. Mehr Potenzial sieht Wilhelm außerdem bei europäischen Unternehmensanleihen guter Bonität oder aber außerhalb der Währungsunion. Sein Fazit: „Papiere aus den Schwellenländern und Unternehmensanleihen der entwickelten Volkswirtschaften außerhalb Europas sind attraktiv, gerade für langfristig orientierte Anleger.“
Aktien, Rohstoffe und Immobilien bleiben attraktiv
Aktien bleiben nach Meinung des Kapitalmarktstrategen im Niedrigrenditeumfeld ein wichtiger Anlagebaustein, vor allem im Vergleich zu anderen Anlageklassen. „Das Kurspotenzial ist aber mittlerweile begrenzt“, mahnt Wilhelm. „Eine schwächelnde Konjunktur und höhere Löhne in Kombination mit den kostensteigernden Auswirkungen von Handelshemmnissen sind Gift für die Margen der Unternehmen. Die Gewinne werden nur noch begrenzt wachsen“, meint er. Damit wird die Bewertung die Schlüsselfrage bei Aktien. „Eine leichte Ausweitung des Kurs-Gewinn-Verhältnisses in Verbindung mit niedrigen Gewinnsteigerungen sollte Aktien noch einen moderaten Aufwärtstrieb geben. Es kommt mehr denn je auf die Auswahl der richtigen Märkte und Einzeltitel an“, erläutert Wilhelm.
Regional bevorzugt er defensive Märkte wie die USA. Europäische Aktien dürften aufgrund politischer Unsicherheit – Stichworte Italien und Brexit – vor allem von Investoren aus Übersee gemieden werden. „In Verbindung mit der lahmenden Konjunktur schränkt das die Möglichkeit für Kurssteigerungen spürbar ein“, folgert Wilhelm. Für attraktiv hält er hingegen Rohstoffe und Immobilien. „Niedrige Zinsen und ein spätes Konjunkturstadium sind traditionell gute Nachrichten für diese Anlageklassen.“
Zentralbanken entscheiden über Börsenentwicklung im zweiten Halbjahr
In den vergangenen Monaten haben sich eine Reihe von Hoffnungen nicht erfüllt: Die Weltwirtschaft ist nicht auf einen selbsttragenden Aufschwung eingeschwenkt, der Handelsstreit hat sich nicht beruhigt und der geldpolitische Ausnahmezustand wurde nicht beendet. Die positive Marktentwicklung ist nach Einschätzung Wilhelms daher vor allem auf die entschlossene Reaktion der Zentralbanken zurückzuführen. Hier sieht er auch den entscheidenden Markttreiber für das zweite Halbjahr. „Die Notenbanken haben klar signalisiert, dass ihr Fokus auf dem Wachstum und weniger auf der Inflation liegt. Das ist mittlerweile am Kapitalmarkt eingepreist und hat chancenorientierten Anlagen und sicheren Staatsanleihen sehr geholfen“, fasst er zusammen. „Kommen die Währungshüter dieser Erwartungshaltung nach und bricht die Konjunktur nicht ein, werden zumindest die Aktienkurse weiter gestützt. Im Falle einer Enttäuschung besteht aber Rückschlagpotenzial.“ Angesichts des geringen Inflationsdrucks ist Wilhelm aber zuversichtlich, dass die eingepreisten Zinsschritte auch tatsächlich durchgeführt werden. „Dann kann es trotz der vielfältigen Herausforderungen aus Anlegersicht durchaus ein erfolgreiches zweites Börsenhalbjahr werden“, schließt er.