Kurz vor Beginn der neuen Post-Brexit-Verhandlungsrunde Anfang September erhöhte der der britische Premierminister Boris Johnson den Druck. Er drohte zum wiederholten Mal mit einem harten Brexit. Aus seiner Sicht müsse ein Handelsabkommen bis zum EU-Gipfel Mitte Oktober stehen, um noch vor Jahresende ratifiziert zu werden. Er werde zwar alles für eine Einigung tun, sieht aber auch bei einem Ausscheiden ohne Abkommen, wonach die Mindeststandards der Welthandelsorganisation (WTO) gelten würden, keinen Schaden für die britische Wirtschaft. Der Europäischen Union (EU) warf er vor, an unhaltbaren Forderungen festzuhalten, während der Chef-Unterhändler der Union, Michel Barnier, den Briten mangelnde Beweglichkeit attestierte.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Regierung in London einen Gesetzentwurf vorgelegt hat, der das sogenannte Nordirland-Protokoll untergräbt und somit internationales Recht bricht. Das Protokoll ist ein wesentlicher Bestandteil des eigentlichen Brexit-Abkommens und sieht vor, dass Nordirland Teil des britischen Zollgebiets wird, aber alle relevanten Binnenmarktregeln der EU in Nordirland Anwendung finden. Sollten die Verhandlungen scheitern, gewährleistet das geplante neue Gesetz („Internal Market Bill“) aus Sicht der Briten die Integrität des britischen Binnenmarktes. Die EU wiederum betrachtet die Einhaltung des Brexit-Abkommens als notwendige Bedingung für die Einigung auf einen Handelsvertrag.
An den eigentlichen Knackpunkten der Handelsgespräche hat sich unterdessen nichts geändert. Neben der europäischen Forderung nach gleichen Wettbewerbsstandards stellt die Fischerei in britischen Gewässern den Hauptstreitpunkt dar. Wobei es aus Sicht der Volkswirte von Union Investment an den Fischereirechten nicht scheitern dürfte. Zentral ist eine Einigung bei den Staatshilfen für Unternehmen, damit aus Sicht der EU kein unlauterer Wettbewerb entsteht. Klar ist, dass eine solche Einigung nur gelingen kann, wenn sich beide Seiten bewegen.
Beobachter zeigen sich zunehmend besorgt, dass die Verhandlungen scheitern könnten. Doch eine Einigung sollte aus Sicht von Union Investment im politischen Interesse sowohl der EU als auch Großbritanniens liegen. Das hat zwei Gründe. Einerseits hat sich die EU im Juli auf einen Wiederaufbauplan geeinigt und damit ein drängendes Problem zeitnah lösen können. Damit ist auf der politischen Agenda Brüssels jetzt Platz, um sich dem Thema Brexit zuzuwenden. Andererseits hat die Regierung Johnson nicht einmal ein Jahr nach dem furiosen Wahlsieg mit starkem Gegenwind zu kämpfen.
Noch vor wenigen Wochen sah es so aus, als plane die Regierung in Westminster, die negativen Auswirkungen eines harten Brexits in dem scharfen wirtschaftlichen Einbruch untergehen zu lassen, den die Corona-Pandemie auf der Insel verursacht hat. Mittlerweile scheint das jedoch kaum noch möglich zu sein. Zwar ist die britische Wirtschaft im zweiten Quartal um 20,4 Prozent im Vergleich zum Vorquartal eingebrochen und damit so stark wie in keinem anderen Industrieland. Doch zeigen sich mittlerweile auch in Großbritannien Anzeichen einer konjunkturellen Erholung.
Der Wirtschaftseinbruch im zweiten Quartal 2020 fiel in Großbritannien so stark aus, wie in keinem anderen Industrieland
Reales Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal 2020
Quelle: Macrobond; Stand: 15. September 2020
Dazu kommt, dass Boris Johnson dringend einen innenpolitischen Erfolg braucht, denn sein Ansehen hat durch sein Missmanagement der Corona-Krise im eigenen Land stark gelitten. Die negativen Folgen eines harten Abschieds von der EU würden vor allem ärmere Wahlkreise treffen, die traditionell Labour wählen. Dort haben konservative Abgeordnete in der letzten Wahl nur gewonnen, weil die Bevölkerung den Brexit unterstützt hat. Leiden diese Menschen dann besonders unter den wirtschaftlichen Verwerfungen eines ungeregelten Ausscheidens, wackelt die neu gewonnene Mehrheit gleich wieder. Deshalb braucht Johnson ein Handelsabkommen mit der EU, um diese negativen Effekte zu verhindern.
Kommt ein solcher Vertrag zustande, wovon die Volkswirte von Union Investment noch immer ausgehen, kann er allerdings nur rudimentär sein. Für ein komplexeres Abkommen fehlt die Zeit. Damit kommen auf die Unternehmen beiderseits des Ärmelkanals höhere Kosten zu, für die britische Seite dürften sie jedoch höher ausfallen. Betroffen wären vor allem die Produzenten von Bekleidung, von elektronischem und optischem Gerät sowie Post- und Telekommunikationsdienstleistungen. Ein gutes Beispiel ist auch die Chemiebranche, die besonders in Mitleidenschaft gezogen würde. Die in Großbritannien verwendeten Chemikalien sind in der EU zugelassen. Künftig müssen sie auch auf der Insel angemeldet werden. Um an die dafür benötigten Informationen über die Stoffe zu kommen, müssen die britischen Unternehmen über sogenannte „Letters of Access“ den Zugang dazu erwerben – und zwar für jede einzelne Chemikalie, die zum Beispiel Bestandteil von UV-Filtern in Sonnenschutzmitteln ist. Das kann pro chemischem Stoff bis zu 340.000 Euro kosten. Darüber hinaus sind Anpassungen bei Absatzmärkten und Lieferketten unvermeidlich.
Die durch den Brexit anfallenden Kosten gehen weit über reine Zollfragen hinaus – Beispiel: Chemiebranche
Kosten für die „Letters of Access“ von UV-Filtern, welche zum Sonnenschutz verwendet werden
Quelle: Financial Times; Stand: 15. September 2020
Der volkswirtschaftliche Ausblick von Union Investment für Großbritannien fällt deshalb auch mit einem Rumpf-Handelsabkommen verhalten aus. Neben dem offenen Ausgang der Handelsgespräche dürfte der private Konsum durch eine verschlechterte Situation am Arbeitsmarkt belastet werden. Denn die Effekte der Pandemie sollten sich im Herbst und Winter dieses Jahres verstärkt am Arbeitsmarkt niederschlagen, vor allem bedingt durch das Auslaufen der britischen Form des Kurzarbeitergelds („Job Retention Scheme“) Ende Oktober 2020.
Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass buchstäblich in letzter Minute ein Handelsabkommen zwischen Großbritannien und der EU zustande kommt, um ein noch schlechteres Konjunkturszenario zu vermeiden. Gegenseitiges Vertrauen vorausgesetzt, ist es auch denkbar, dass auf der Basis eines solchen Vertrags erst die wichtigsten Rahmenbedingungen wie etwa Zollfreiheit implementiert und weitere, nicht-tarifäre Vereinbarungen in der Folge phasenweise eingeführt werden.
Stand aller Informationen, Erläuterungen und Darstellungen:
15. September 2020, soweit nicht anders angegeben.