Knapp ein Drittel der Weltbevölkerung und ein Drittel der globalen Wirtschaftsleistung umfasst die größte Freihandelszone der Welt, die derzeit im asiatisch-pazifischen Raum entsteht. Am 15. November haben 15 Staaten die „Regional Comprehensive Economic Partnership“ (RCEP) und damit die größte Freihandelszone der Welt noch vor Nordamerika und Europa auf den Weg gebracht. Mitglieder sind die zehn ASEAN-Staaten sowie China, Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland. Bemerkenswert ist, dass China und Japan erstmals in einem gemeinsamen Handelsabkommen zusammenfinden. Indien hingegen hat sich bereits 2019 aus den Verhandlungen zurückgezogen, weil es die Konkurrenz aus den Nachbarländern fürchtet.
Wesentlicher Treiber hinter dem Bündnis war die Volksrepublik China. Ein nicht zu unterschätzender Faktor ist, dass RCEP ein Gegengewicht zum Freihandelsabkommen Transpazifische Partnerschaft (TPP) schafft. Nach dem Rückzug der USA aus der TPP unter der Trump-Regierung war ein Vakuum entstanden, das von China inzwischen mit großem Geschick gefüllt wurde. Aktuell befindet sich das Land auf der Überholspur: China stößt in das Machtvakuum, das sich durch den Trump’schen Rückzug aus Abkommen und Bündnissen sowie die Corona-Krise bietet. Die regionale, umfassende Wirtschaftspartnerschaft ist ein weiterer Beleg für die sich verschiebenden Kräfteverhältnisse zwischen den großen Blöcken der Welt – zugunsten Chinas und Asiens.
Auch wenn Details noch ausstehen, so werden doch insbesondere Südkorea, Japan, Malaysia, Thailand und China als Hauptprofiteure gesehen. Der US-amerikanische Think Tank Peterson Institute for International Economics (PIIE) schätzt in einer Analyse, dass bis zum Jahr 2030 durch das Abkommen ein globaler Wachstumsimpuls von 186 Milliarden US-Dollar ausgelöst werden könnte. Der positive Impuls gilt für die Region im Übrigen auch für den Fall, dass der Handelskonflikt zwischen den USA und China weiter existiert. RCEP muss aber noch von allen 15 Länderparlamenten ratifiziert werden. Das Abkommen tritt in Kraft, wenn entweder die Hälfte aller Mitgliedsländer oder sechs ASEAN-Länder sowie die Hälfte der non-ASEAN Länder zugestimmt haben – also vermutlich Mitte 2021 (ASEAN: Verband Südostasiatischer Nationen).
RCEP-15: Voraussichtlich positive Einkommenseffekte für Mitgliedsstaaten
Abbau tarifärer und nicht-tarifärer Handelshemmnisse
Die wichtigsten Ziele des Bündnisses sind der Abbau von Zöllen und Handelshemmnissen, aber auch eine intensivere Zusammenarbeit in vielen Bereichen und verstärkte Investitionen in die Wirtschaft. Im Bereich der tarifären Handelshemmnisse werden zunächst Zölle und Quoten auf rund 65 Prozent der Waren, die innerhalb der Zone gehandelt werden, direkt entfallen. In 20 Jahren sollen es über 90 Prozent sein. Das Abkommen umfasst auch nicht-tarifäre Handelshemmnisse beispielsweise bei Dienstleistungen, Investitionen, e-Commerce, dem Schutz geistigen Eigentums und der Freizügigkeit von Personen.
Besonders wichtig ist dabei die Vereinheitlichung der „Rules of Origin“ von einzelnen Komponenten in komplexen Produktionsprozessen. Damit werden nicht zuletzt die regionalen Lieferketten gestärkt, vor allem wenn die Corona-Pandemie eines Tages überwunden ist.
RCEP als Wachstumstreiber für Asien-Pazifik
Bei der Bewertung der Auswirkungen des RCEP-Handelsabkommens können zwei Ebenen voneinander unterschieden werden. Unter ökonomischen Aspekten ist anzumerken, dass der Handel zwischen den asiatisch-pazifischen Ländern bereits heute sehr rege ist und aktuell Güter im Wert von rund 12,4 Billionen US-Dollar umfasst. Doch sind die neuen Vereinbarungen ein weiterer wichtiger Schritt zur Stärkung der Lieferketten sowie zur generellen Intensivierung zwischenstaatlicher Kooperationen und Investitionen. Dies sollte sich schon bald positiv auf Wachstum und Beschäftigung in der Region auswirken.
Mit Blick auf die geopolitische Bedeutung von RCEP hat China einen wahren Coup gelandet. Gepaart mit dem chinesischen Großprojekt der „Neuen Seidenstraße“ (One Belt, One Road) dürfte das Land seinen Einfluss in der Region weiter ausbauen können. Mit dem neuen Handelsabkommen besteht nun eine Plattform, die eine Weiterentwicklung der Handelsbeziehungen in der Region ermöglicht. Aus strategischer Sicht bedeutet dies eine Stärkung gegenüber den Freihandelsabkommen in Nordamerika (United-States-Mexico-Canada-Agreement USMCA) und dem Europäischen Wirtschaftsraum (Europäische Union inkl. Norwegen, Island und Liechtenstein).
Das weltgrößte Freihandelsabkommen wird in Asien verabschiedet
Was bedeutet das RCEP für Europa?
Diese Entwicklung ist ein Weckruf für den Westen, da der Zusammenschluss auch wirtschaftlich besonders dynamische Länder, die zudem noch eine wachsende Bevölkerung haben, umfasst. Wird das Abkommen wie geplant umgesetzt, verlagert sich ein beträchtlicher Teil der globalen wirtschaftlichen Macht in Richtung Asien-Pazifik. Für Europa stellt sich damit die Frage, ob es sich stärker China und seinen neuen Verbündeten zuwendet, nachdem die USA unter der Trump-Regierung Europa die kalte Schulter gezeigt haben.
Hinsichtlich der transatlantischen Partnerschaft mit den USA gehen die Experten von Union Investment davon aus, dass sich der Ton unter dem neu gewählten US-Präsidenten Joe Biden verbessern wird. Inhaltliche Differenzen, etwa hinsichtlich der Verteidigungsausgaben oder der Gas-Pipeline Nordstream II, die russisches Gas nach Westeuropa transportiert, werden aber unverändert bestehen bleiben. Eine Rückkehr zum Multilateralismus ist damit eher möglich. Hinzu kommt: Die Großmachtkonkurrenz zwischen den USA und China dürfte die kommende Dekade prägen. In strategisch wichtigen Technologiebereichen ist deshalb eine Blockbildung mit geographisch getrennten Einflusssphären sehr wahrscheinlich. Das chinesische Megaprojekt der „Neuen Seidenstraße“ lässt den möglichen Grenzverlauf erahnen.
Europa wird sich entscheiden müssen: Setzt man auf die alte, aber zuletzt merklich abgekühlte Freundschaft zu den USA, geht man mit China, das schon jetzt wichtigster Handelspartner vieler EU-Staaten ist, oder gibt es einen Mittelweg? Aus Sicht der Experten von Union Investment besteht das Risiko für Europa, zwischen den beiden Wirtschaftsblöcken in die Bedeutungslosigkeit abzugleiten. Umgekehrt gilt aber auch: Aus einer sich möglicherweise beschleunigten Wachstumsdynamik in der Region Asien-Pazifik ergeben sich selbst vor dem Hintergrund einer Fortsetzung der Handelskonflikte Chancen. Um diese besser nutzen zu können, ist eine entsprechende regionale Anpassung des Anlageportfolios bedenkenswert.
Stand: 7. Dezember 2020