Momentan treibt die Kapitalmarktakteure eine Frage um: ist es nur ein Buckel, oder kommt noch mehr? Gemeint ist der Verlauf der Inflationsentwicklung. Ist der aktuell messbare Preisauftrieb vorübergehend – oder zeichnet sich ein nachhaltiger Aufwärtstrend ab? Je nach dem hätte dies höchst unterschiedliche Auswirkungen auf die Entwicklung der Notenbankpolitik und auf die Kapitalmärkte.
Nach Einschätzung der Volkswirte von Union Investment ist der zuletzt beschleunigte Preisanstieg vorübergehend. Zwar ist der Scheitelpunkt der Inflation in der Eurozone erst im Herbst zu erwarten, doch in der ersten Jahreshälfte des nächsten Jahres ist mit einem deutlich abflauenden Preisauftrieb zu rechnen. Die Inflationsraten dürften dann wieder klar unter dem von der Europäischen Zentralbank (EZB) ausgegebenen Ziel von knapp unter zwei Prozent liegen.
Die Inflations-Alarmtaste muss nicht gedrückt werden
Beruhigung im weiteren Jahresverlauf
So hoch wie seit 2008 nicht mehr
Aktuell sieht das Bild jedoch anders aus: Die Inflationsdynamik in Deutschland und im Euroraum ist beachtlich. Die jüngsten Daten aus dem Monat Mai lagen etwas über den Konsensschätzungen im Markt. So ist die Inflation im Euroraum erstmals seit 2018 im Jahresvergleich auf zwei Prozent geklettert.
Noch augenfälliger ist das Bild in Deutschland: Hier zog die Inflation nach Angaben von Destatis im Jahresvergleich um 2,5 Prozent an – der höchste Stand seit September 2008 (im Monatsvergleich +0,5 Prozent). Etwas moderater war das Plus auf Basis der EU-harmonisierten Verbraucherpreise (HVPI) mit +2,4 Prozent (+0,3 Prozent im Monatsvergleich). Der Vergleich zu +1,8 Prozent (Jahresvergleich) in Frankreich und +1,3 Prozent in Italien zeigt dabei, wie groß die Streubreite im Preisauftrieb innerhalb des Euroraums gerade ist.
Warum kommt es aber gerade jetzt zum Preisschub? Und was rechtfertigt die Einschätzung, dass dies nicht von Dauer sein wird? Dafür sprechen verschiedene Gründe, die sich mit „pandemiebedingte Verzerrungen“ zusammenfassen lassen:
Zum einen liegt dies an Basiseffekten. Vor gut einem Jahr brach die Corona-Krise plötzlich aus. Wegen rigoroser Eindämmungsmaßnahmen wurde das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben heruntergefahren und das Wachstum brach ein. Entsprechend gerieten viele Preise stark unter Druck, allen voran die Energiepreise. Gut ein Jahr später und dank großer Impffortschritte erholt sich die Wirtschaft wieder schrittweise und mit ihr die Preise. Auf Basis der niedrigen Vorjahreszahlen ergibt sich ein kräftiger Preisauftrieb – wie im Mai vor allem bei Energie. Hier legten in Deutschland im vergangenen Monat die Preise zum Beispiel im Jahresvergleich um 10 Prozent zu.
Ein weiterer Faktor sind Engpässe in Lieferketten sowie knappe Produktionskapazitäten. Weil die Produktion vorerst nicht mit der teilweise sprunghaften Erholung der Nachfrage in vielen Teilbereichen der Wirtschaft schritthalten kann, kommt es zu Ungleichgewichten. Zunächst äußerten sich diese vor allem bei Rohstoffen und Gütern. Mit dem Öffnen immer weiterer Wirtschaftsbereiche zeigen sich Verwerfungen mittlerweile auch im Dienstleistungssektor: im Mai sind zum Beispiel die Preise für Pauschalreisen deutlich gestiegen. Allerdings läuft die Preiserfassung vor allem über Reisebüros, von denen im Mai noch viele pandemiebedingt geschlossen waren. Das macht die Daten aktuell revisionsanfällig und schwer zu interpretieren. Aber auch die Preise für Kleider und Schuhe legten stärker als saisonal üblich zu, was sich nicht nur auf einen Basiseffekt zurückführen lässt.
Drittens hieven Sonderfaktoren wie die Senkung der Mehrwertsteuer in Deutschland im zweiten Halbjahr 2020 oder die Einführung der CO2-Steuer auf Treibstoffe zu Jahresbeginn die Inflationsrate in 2021 zusätzlich höher.
Aus diesen Gründen dürften die Inflationszahlen bis zum Ende des Jahres weiterhin verzerrt bleiben. Monatliche Wasserstandsmeldungen sollten daher nicht überinterpretiert werden. Im Herbst sollte die Inflation in Deutschland (HVPI) bei knapp vier Prozent ihren Höhepunkt erreicht haben, und im Euroraum bei rund 2,5 Prozent.
Gute Gründe gegen nachhaltigen Preisdruck
Die genannten Faktoren dürften zu Beginn des nächsten Jahres auslaufen. Einerseits, weil die Basiseffekte und Sonderfaktoren auslaufen. Andererseits, weil Lieferketten wieder geschmeidiger laufen, Unternehmen neue Produktionskapazitäten aufbauen und Verbraucher ihre Konsumgewohnheiten wieder normalisieren.
Zudem spricht gegen nachhaltigen Preisdruck, dass die Erholung der Wirtschaft im Euroraum noch lange nicht so fortgeschritten ist wie jene in den USA. Die Arbeitslosigkeit in Italien und Spanien ist beispielsweise nach wie vor hoch. Die Volkswirte von Union Investment erwarten darum zunächst keine Lohn-Preis-Spirale, aus der nachhaltiger Inflationsdruck entstehen könnte. Auch sind im Euroraum die bisherigen sowie geplanten Fiskalstimuli (nationale und europäische wie der Wiederaufbaufonds/Next Generation EU) kleiner als die auf der anderen Seite des Atlantiks.
An den Rentenmärkte zeigt sich derzeit weiterhin eine negative Realrendite (Nominalrendite abzüglich Inflationserwartungen), was Risikoanlagen stützt. Die Nominalrenditen dürften bis zum Jahresende voraussichtlich nur moderat etwas weiter ansteigen. Angesichts dieses Ausblicks kann die EZB auf ihrer nächsten Ratssitzung am 10. Juni 2021 gelassen bleiben und sich darauf beschränken, die Finanzierungsbedingungen weiterhin günstig zu gestalten. Ob dies mit einem etwas langsameren – oder einem unwahrscheinlich schnelleren – Tempo bei den Anleihekäufen einhergeht als bisher, dürfte die EZB von den Finanzierungsbedingungen selbst und dem Inflationsausblick abhängig machen. Somit hält sie sich alle Möglichkeiten für die kommenden Monate offen.
Stand aller Informationen, Erläuterungen und Darstellungen:
4. Juni 2021, soweit nicht anders angegeben.