Eine entscheidende Veränderung gegenüber den Vorjahren betrifft die Pandemielage, trotz des bevorstehenden harten Corona-Winters. „Langsam nähern wir uns dem Übergang von einer pandemischen in eine endemische Phase mit wirksamen Impfstoffen und Medikamenten“, meint Wilhelm und verweist auf zunehmende Impfquoten und wachsende Grundimmunisierung in den meisten Teilen der Welt. Für 2022 rechnet er daher nicht mehr mit großen Infektionswellen. „Das Infektionsgeschehen verliert für die Kapitalmärkte an Bedeutung“, fasst er zusammen.
Mit Blick auf die Konjunktur geht der Kapitalmarktstratege nach der kräftigen Erholung 2021 für das neue Jahr von einer Normalisierung aus. „Wir rechnen mit etwas niedrigerem, aber immer noch auskömmlichem Wachstum“, sagt Wilhelm. Nach den Prognosen der Volkswirte bei Union Investment dürfte das weltweite Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2022 noch um solide 4,5 Prozent zulegen, nach 5,7 Prozent im laufenden Jahr. Für die USA rechnen die Experten im gleichen Zeitraum mit einem Rückgang von 5,5 auf 4,2 Prozent und für die Eurozone von 5,1 auf 4,5 Prozent. Auch in China erwartet Wilhelm eine Verlangsamung. Die Regierung in Peking nimmt seiner Einschätzung nach unter der Maxime des ‚allgemeinen Wohlstands‘ bewusst Einbußen in Kauf, um Ziele wie weniger Ungleichheit oder eine Abkühlung des Immobilienmarktes zu erreichen. „Der neue Wirtschaftskurs der KP China kostet Wachstum, stellt aber kein systemisches Risiko für die Märkte dar“, folgert Wilhelm und rechnet mit einem Rückgang des BIP-Anstiegs von 8,0 Prozent (2021) auf 5,0 Prozent.
Deutsches BIP schnellt hoch
Einen Sonderfall stellt seiner Ansicht nach die deutsche Volkswirtschaft dar. „Aufgrund der großen Bedeutung der Industrie ist Deutschland von der aktuellen Lieferkettenproblematik besonders betroffen“, analysiert Wilhelm. Allerdings erwartet er für 2022 eine Auflösung der Lieferengpässe und rechnet in der Folge mit einer deutlichen Zunahme des Wachstums: „Das deutsche BIP dürfte 2022 um 4,3 Prozent hochschnellen.“ Damit verdeutlicht Deutschland exemplarisch den konjunkturellen Effekt der aktuellen Lieferengpässe. Kurzfristig wird das Wachstum zwar gemindert, da industrielle Produktion verschoben werden muss. „Diese Produktionsverschiebung wirkt aber wie eine Art ‘Wachstumsspeicher‘ für die Zeit, wenn die Verzögerungen aufgeholt werden können“, erläutert Wilhelm.
Beruhigung der Inflation auf höherem Niveau
Nicht zuletzt durch diese Entwicklung dürfte sich die derzeit hohe Inflation nächstes Jahr wieder etwas beruhigen. „Das Zeitalter der Disinflation geht zu Ende. Wir erwarten aber keine dauerhafte Hochinflationsphase“, fasst Wilhelm zusammen. In der ersten Jahreshälfte dürften die Energiepreise zunächst einer Entspannung noch entgegenstehen. Auslaufende Basiseffekte, abnehmende Angebotsengpässe und eine Verschiebung vom Güter- zum Dienstleistungskonsum werden aber nach und nach dazu führen, dass sich die derzeit noch sehr kräftigen Preissteigerungsraten in der zweiten Jahreshälfte wieder zu einem großen Teil zurückbilden. Im Anschluss rechnet Wilhelm mit einer Stabilisierung, allerdings auf einem höheren Niveau als vor der Krise. „Konkret rechnen wir für 2022 mit einer Inflationsrate von 3,7 Prozent in den USA und 2,4 Prozent im Euroraum“, prognostiziert er.
Geldpolitische Normalisierung hat begonnen
Viele kleinere Notenbanken in Europa und Asien fahren daher ihre geldpolitischen Hilfen bereits zurück. „Der globale geldpolitische Zyklus hat gedreht“, erläutert Wilhelm. Mit der US-Notenbank steht nun auch das erste Schwergewicht kurz davor, eine Normalisierung der Geldpolitik einzuläuten. „Bis zur Jahresmitte 2022 dürfte die Fed ihre Anleihekäufe auf null reduziert haben. Eine erste Zinserhöhung wird Ende des nächsten Jahres wahrscheinlich“, fasst er die Erwartung von Union Investment zusammen. Deutlich zurückhaltender dürfte die Europäische Zentralbank (EZB) agieren. „Wir rechnen 2022 mit einem Zurückfahren, aber keinem Ende der Anleiheankäufe. Auch nach dem Auslaufen ihres Notfallankaufprogramms PEPP wird die EZB weiter Papiere erwerben, vermutlich sogar bis Ende 2023“, meint Wilhelm. Insgesamt hat die Normalisierung der Geldpolitik seiner Ansicht nach also bereits eingesetzt und der geldpolitische Rückenwind für die Börsen nimmt im nächsten Jahr ab.
Aktien und Rohstoffe sind attraktiv
Das Kapitalmarktumfeld wird auf der Suche nach einem neuen Gleichgewicht in der Post-Corona-Welt damit zwar anspruchsvoller, bietet aber nach wie vor Chancen. „Im kommenden Jahr sollte das auskömmliche Wachstum die Sorgen um Inflation und eine restriktivere Geldpolitik in den Hintergrund rücken. Damit bleiben die Aussichten für chancenreiche Anlagen gut“, fasst Wilhelm zusammen. Die besten Perspektiven weisen seiner Einschätzung nach weiter Aktien auf. Aufgrund der erreichten Bewertungen sieht er das Kurspotenzial zwar begrenzt. Aber: „Im Vergleich zu anderen Anlageklassen sind Aktien weiter attraktiv bewertet, zumal der Trend zu steigenden Unternehmensgewinnen intakt bleibt“, ergänzt er. Im Jahr 2022 dürften die Konzerne ihre Profite nach Schätzungen von Union Investment weltweit um acht Prozent steigern. „Die Unternehmensgewinne sind ein solides Polster, auch für den Fall leicht sinkender Aktienbewertungen und ermöglichen in Verbindung mit Dividenden und Aktienrückkaufprogrammen einen attraktiven Gesamtertrag“, sagt Wilhelm.
Rohstoffe dürften seiner Einschätzung nach 2022 ebenfalls gut abschneiden. Allerdings zeichnet sich hier ein längerfristiger Favoritenwechsel ab. „Nicht alle Champions von gestern werden die Gewinner von morgen sein“, prognostiziert er. Verantwortlich dafür sind vor allem die weltweiten Dekarbonisierungspläne, wie sie zuletzt auch auf der Klimakonferenz COP 26 diskutiert wurden. „Was für die grüne Transformation der Wirtschaft gebraucht wird, wird weiter stark nachgefragt“, erwartet er. Hinzu kommt die erwartete Auflösung der Lieferkettenproblematik. Beides spricht für eine zweistellige Jahresperformance von Industriemetallen. Bei Energierohstoffen scheint hingegen die anziehende Nachfrage eingepreist.
Moderater Renditeanstieg bei Staatsanleihen
Auf der Rentenseite rechnet Wilhelm angesichts der Normalisierung der Geldpolitik und etwas höherer Inflation bei den ‚sicheren Häfen‘ mit leicht steigenden Renditen. „Zum Jahresende 2022 sind 2,0 Prozent bei zehnjährigen US-Treasuries und 0,2 Prozent bei laufzeitgleichen deutschen Bundesanleihen realistisch.“ Größere Anstiege hält er für unwahrscheinlich, da sich das Netto-Angebot an ausstehenden US-Staatsanleihen entweder kaum verändern oder wie im Euroraum sogar sinken sollte. Im Endergebnis sieht er das für Investoren erwerbbare Anleihe-Angebot gedeckelt, was wiederum die Renditen stabilisieren dürfte. Für Unternehmensanleihen, lange Zeit eine beliebte Ausweichstrategie gegen den Anlagenotstand, sieht Wilhelm nur noch begrenztes Potenzial. „Weiter sinkende Spreads bei Unternehmensanleihen sind unwahrscheinlich, zumal in Europa der ’EZB-Put’ mit rückläufigen Anleiheankäufen schwächer wird“, sagt er. Trotz guter Fundamentaldaten zählt die Sub-Anlageklasse damit 2022 nicht mehr zu den Favoriten, auch wenn in einigen Bereichen wie Nachranganleihen oder CoCo-Bonds durchaus noch Chancen liegen.
Bei Immobilien stehen die Zeichen nach Einschätzung Wilhelms auf Normalisierung. „Die Investmentmärkte für Immobilien sind stabil und nun verbessert sich auch der Vermietungsmarkt“, konkretisiert er. Das gilt gerade für Nutzungsarten, die aufgrund der Pandemie mit besonders schwierigen Bedingungen konfrontiert waren, wie beispielsweise das Hotelsegment. „Je normaler im nächsten Jahr das wirtschaftliche Leben wird, umso schneller verarbeiten die Immobilienmärkte die vergangenen Belastungen“, sagt Wilhelm. Auch im weiter von niedrigen Zinsen gekennzeichneten Post-Corona-Gleichgewicht wird die Anlageklasse demnach eine wichtige Rolle für Anleger spielen.
Grüne Transformation eröffnet neue Investmentchancen
Nach zwei Ausnahmejahren markiert 2022 den Übergang zu mehr Normalität an den Kapitalmärkten. Für Anleger sollte diese Entwicklung aber kein Zeichen dafür sein, sich entspannt zurückzulehnen. Im Gegenteil: „Der starke Rückenwind an den Kapitalmärkten lässt nach. Zudem nehmen die Performanceunterschiede zwischen den einzelnen Anlageklassen ab“, warnt Wilhelm. Gleichzeitig sieht er neue Investmentchancen durch strukturelle Veränderungen, nicht zuletzt im Zuge der ’grünen Transformation’ der Wirtschaft. „Die Berücksichtigung nachhaltiger Investitionskriterien wird angesichts dieses gewaltigen Umbaus – Stichwort Dekarbonisierung – immer wichtiger“, erläutert er. „Es wird insgesamt mehr um erfolgreiche Einzeltitel- und Sektorselektion sowie taktische Aktivität gehen, um im Börsenjahr 2022 den notwendigen Erfolg zu erzielen.“ Die Chancen dafür stehen auch auf dem Weg zum Post-Corona-Gleichgewicht vor allem aufgrund des weiterhin positiven Wachstumsausblicks jedenfalls nicht schlecht.