Die Beschlüsse der EZB auf ihrer Sitzung am Donnerstag (10. März 2022) sowie die Pressekonferenz mit Präsidentin Christine Lagarde bestärken die Volkswirte von Union Investment in der Einschätzung, dass die EZB die geldpolitische Wende Ende dieses Jahres mit dem Ende der Nettoanleihekäufe und einem Zinsschritt einläuten möchte. Die momentanen Zeiten stellen eine enorme Herausforderung für Zentralbanker dar, vor allem für die Währungshüter der EZB. Denn die Lücke zwischen der außergewöhnlich hohen Inflation und gedämpfter Wirtschaftsaktivität wird durch den Krieg in der Ukraine noch größer.
Auslaufen des Asset Purchase Programme (APP) schon im Juli möglich
Doch trotz dieser Unsicherheit hat die EZB zum dritten Mal in Folge im Anschluss an ihre turnusmäßige geldpolitische Sitzung Finanzmarktteilnehmer auf falkenhafte Weise überrascht. Die Risikoprämie auf italienischen Staatsanleihen relativ zu Bundesanleihen erhöhte sich von 150 auf rund 165 Basispunkte. Grund war der Beschluss der EZB, die Nettoanleihekäufe im Rahmen des APP von 40 Milliarden Euro im April auf 30 Milliarden Euro im Mai und 20 Milliarden Euro im Juni zurückzufahren – schneller als die Marktteilnehmer angesichts des Kriegs in der Ukraine erwartet hatten. Somit könnten die Nettoanleihekäufe bereits im Juli null betragen. Der wesentliche Grund für diese etwas falkenhaftere Entscheidung ist nach Meinung der Volkswirte von Union Investment ein zu optimistisches Szenario, welches die EZB unterstellt (siehe Tabelle). Seit dem 2. März, als die EZB ihr Szenario finalisiert hat, haben sich die Dinge, vor allem die Energiepreise, eher zum Schlechten gewendet. Der Aussage Lagarde, dass die EZB das Zurückführen des Stimulus nicht beschleunigen würde, widersprechen die Experten von Union Investment. Dies würde nur zutreffen, wenn der Gleichgewichtszins seit Mitte Dezember gestiegen wäre, was sie angesichts der geopolitischen Eskalation bezweifeln. Zutreffender wäre, dass die EZB den Gleichgewichtszins zu gering oder die Schieflage zwischen gesamtwirtschaftlichem Angebot und Nachfrage falsch eingeschätzt hat.
Wirtschaftsprognosen (in %)
EZB räumt sich mehr Zeit für einen ersten Zinsschritt ein
Allerdings hat sich die EZB auch neuen Handlungsspielraum geschaffen. Ein womöglich früheres Ende der Nettoanleihekäufe geht nicht mit einem früheren Zinsschritt einher. Die EZB räumt sich eine „gewisse Zeit“ zwischen dem Ende der Nettoanleihekäufe und dem ersten Zinsschritt ein. Damit bestätigt sie zwar noch einmal diese Reihenfolge, über deren Umkehr vielleicht künftig weniger spekuliert wird. Die unmittelbare Abfolge wird aber zeitlich etwas entkoppelt. Folgende Zinsschritte sollen außerdem sukzessive erfolgen, was in den Augen der Experten von Union Investment gerechtfertigt ist, angesichts eines geringeren Gleichgewichtszinses im Euroraum als in den USA.
Angesichts der Ungewissheit hält sich die EZB außerdem vor, ihre Geldpolitik anzupassen. In der Pressekonferenz verwendete Lagarde Schlagworte wie „Optionalität“, „Flexibilität“ und „Agilität“ auffallend häufig. Die Nettoanleihekäufe im Rahmen des APP fallen im zweiten Quartal nur solange der mittelfristige Ausblick Bestand hat und die Finanzierungsbedingungen angemessen bleiben (Kompromiss zwischen den Falken und Tauben im EZB-Rat). Das Ausmaß der Nettoanleihekäufe im dritten Quartal sei datenabhängig und könne erst im Laufe des Quartals zurückgefahren werden. Die beiden aufgestellten Alternativszenarien der EZB sind beides Risikoszenarien. Das moderate Risikoszenario entspricht weitestgehend der Einschätzung der Volkswirte von Union Investment und bestärkt sie in ihrer Annahme, dass die Nettoanleihekäufe tatsächlich erst im September anstatt im Juni enden werden.
Inflationsziel von zwei Prozent laut EZB 2024 erreichbar
Mit der Entscheidung bleibt die EZB auf dem Normalisierungspfad – solange die Wirtschaft auf einem Wachstumskurs und die Finanzstabilität gewahrt bleiben. Im Basisszenario der EZB liegen sowohl die Gesamtrate als auch die Kernrate 2024 bei 1,9 Prozent - sicherlich ein wesentlicher Grund für die Entscheidung. Gemäß Lagarde nähert sich die Inflation mittelfristig dem zwei Prozent-Zielwert in allen Szenarien. Etwas verwundert die Aussage von Lagarde die Volkswirte von Union Investment, weil im moderaten Risikoszenario die Inflation 2024 mit 1,6 Prozent spürbar unter dem Zielwert liegt. Sollte der Euroraum dieses Jahr in eine tiefe Rezession fallen, würden sie von der Einschätzung eines ersten Zinsschrittes in 2022 Abstand nehmen – ansonsten steigt die Gefahr eines Politikfehlers. Man muss bedenken, dass die Inflation eher angebotsgetrieben und importiert ist als nachfragegetrieben und heimisch generiert. Die Lohnsetzungsmacht hält sich mit Ausnahme von einigen Sektoren noch in Grenzen. Die neu gewonnene Preissetzungsmacht vieler Unternehmen könnte außerdem von kurzer Dauer sein.
Im Übrigen machte Lagarde deutlich, dass die EZB die Finanzstabilität genau im Auge behalten würde. Der Zentralbank-Put mit Blick auf die Preisstabilität mag angesichts der hohen Inflationsraten Geschichte sein, der für Finanzstabilität existiert weiterhin. Vizepräsident Luis de Guindos versicherte, dass die Märkte volatil sind, sie aber weiterhin größtenteils liquide wären und sich die Ausweitungen der Risikoaufschläge (Spreads) in Grenzen halten würden – anders als in 2020. Besonderes Augenmerk habe die EZB allerdings auf den Rohstoff-Derivatemarkt als erste Gefahrenquelle gerichtet. Der Ausblick für das Bruttoinlandsprodukt (BIP) und die Inflation werde zudem stark von der Fiskalpolitik abhängen. Dazu schaut die EZB auf den EU-Sondergipfel.