Russisches Gas fließt weiter nach Europa. Die Zahlungen müssen nun über die russische Gazprom-Bank abwickelt werden. Aufgrund der unberechenbaren Auswirkungen eines möglichen Gaslieferstopps hat Wirtschaftsminister Habeck die erste Gas-Warnstufe ausgerufen.
Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat zuletzt die Diskussionen über die starke Abhängigkeit einiger europäischer Länder von russischen Energielieferungen angeheizt. Inzwischen steht die Frage im Raum, ob Europa seinen Bezug von Gas und Öl aus Russland nicht komplett einstellen sollte, um die Finanzierungsquellen des Kreml weiter einzuschränken. Es mehren sich die mahnenden Stimmen, vor allem von deutschen Regierungs- und Industrievertretern, die ein Szenario einer schweren Rezession mit vielen Arbeitslosen sehen, sollten die Gaslieferungen aus Russland ausbleiben. Hierzu gehören unter anderem Bundeskanzler Scholz und BASF-Chef Brudermüller.
Es steht aber auch die Möglichkeit im Raum, dass Russland von sich aus die Lieferungen einstellt. Die Forderung von Präsident Putin, dass der Westen ab dem 1. April die Energielieferungen in Rubel statt in Euro oder US-Dollar begleicht, geht in diese Richtung. Die deutschen Zahlungen werden zwar weiterhin in Euro getätigt, aber über Währungskonten bei der Gazprom-Bank in Rubel konvertiert. Die Gazprom-Bank ist von den Sanktionen gegen den russischen Bankensektor bislang ausgeschlossen, da diese wichtig für Rohstofftransaktionen ist.
So abhängig ist Europa vom Gas aus Russland
Anteil russischer Gasimporte am Gasverbrauch
Hohe Abhängigkeit Deutschlands und Italiens von russischen Erdgaslieferungen
Generell ist festzustellen, dass seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges die einseitige Abhängigkeit Deutschlands von russischem Pipeline-Gas stark kritisiert wird. So bezieht Deutschland aktuell rund fünfzig Prozent seines Gasverbrauchs aus Russland. Italien liegt bei 46 Prozent und auch die osteuropäischen EU-Staaten sind wichtige Abnehmer. Aus ökonomischer Sicht hat der Kauf von günstigem russischen Gas aus bestehenden Pipelines für Deutschland aber Sinn ergeben. Für ein Land, das sich komplett von der Atomkraft und der Kohleverstromung verabschieden möchte, gilt Erdgas als Übergangstechnologie auf dem Weg zur Klimaneutralität. Gas verursacht immerhin nur etwa halb so viel CO2-Emissionen wie Kohle.
Der Ukraine-Krieg hat nun aber die alten Gewissheiten des Westens zerstört. Dass Putin ein Autokrat mit Hang zu aggressiver Außenpolitik ist, war klar. Aber mit dem Krieg in der Ukraine hatte kaum jemand gerechnet. Denn der Krieg folgt, ökonomisch gesehen, für Russland keinem sinnvollen Kalkül. Auch für den Westen bringt der Krieg starke Wohlstandsverluste mit sich. Die Energiepreise sind schon deutlich gestiegen. So hat sich Erdgas im Einjahres-Vergleich mehr als verdoppelt, Brent-Öl verteuerte sich um rund zwei Drittel. Ein Stopp der Gaslieferungen Russlands würde Deutschland als größte Volkswirtschaft Europas besonders hart treffen. Deshalb hat Wirtschaftsminister Habeck die erste Stufe des Notfallplans Gas ausgerufen, ein symbolträchtiges Statement.
Mögliche Szenarien bei Ausfall der russischen Gaslieferungen
Wie es in nächster Zeit weitergeht, ist schwer vorhersehbar. Bisher sieht es nicht so aus, dass Russland seine Gaslieferungen einstellen wird. Schließlich fließen so täglich rund 200 Millionen Euro aus Europa in die Staatskasse. Doch aufgrund des deutschen Dilemmas konnte sich die EU noch nicht zu einem Abnahmestopp durchringen. Was würde passieren, wenn demnächst die russischen Gaslieferungen ausfielen?
Erdgas wird in drei Bereichen eingesetzt: Zum Heizen, zur Stromerzeugung und als Rohstoff in der Industrie. Zurzeit sind die deutschen Gasspeicher mit Blick auf das Frühjahr und den Sommer noch ausreichend gefüllt. Der nächste Herbst und Winter wäre aber problematisch. Auf der letzten Stufe des dreistufigen deutschen Notfallplans würde dann der Staat bestimmen, wie die Gasmengen verteilt werden. Höchste Priorität hätte die Versorgung der privaten Haushalte und der Kleingewerbe (wie zum Beispiel Bäckereien). Erst am Ende der Liste ständen die großen industriellen Verbraucher, beispielsweise aus der Stahl- und Chemiebranche.
Es wird geschätzt, dass rund 60 Prozent des russischen Gasbezugs relativ zügig substituiert werden könnten. Durch 1. den Kauf von Flüssiggas auf dem Weltmarkt, 2. dem Heben von Effizienzen in der Stromerzeugung und 3. dem Einsparen von Energie. So wird die Bevölkerung etwa aufgerufen, ihre Wohnungen weniger stark zu heizen. Über die hohen Preise sollte der Marktmechanismus auch ganz von alleine wirken. Dass diese Maßnahmen aber kurzfristig ausreichen würden, um eine Rezession in der deutschen Wirtschaft zu verhindern, ist unwahrscheinlich, auch weil die Infrastruktur für alternative Energiequellen fehlt.
Europa will den Gas-Ausstieg beschleunigen
Prognose für den Verbrauch gasförmiger Brennstoffe bis zum Jahr 2050
Mittel- und langfristig will die EU aus den fossilen Energien aussteigen
Festzustellen ist, dass die EU auch schon vor dem Ukraine-Krieg einen ambitionierten Fahrplan aufgestellt hatte, um bis zum Jahr 2050 klimaneutral zu werden. Mittel- bis langfristig soll Erdgas keinen Platz mehr im Energiemix haben. Die Frage ist nur, wie lange die Umstellung dauert. Deutschland müsste die Verfahren für den Bau von Windkraft- und Solaranlagen deutlich beschleunigen und die Privathaushalte bei der Umrüstung ihrer Heizsysteme stärker fördern. Es müssten auch rasch Speicher für Flüssiggas errichtet und das Strom-Leitungsnetz ausgebaut werden. Es wäre auch sinnvoll, wenn es in Deutschland einen zentralen Masterplan oder eine Taskforce für die Energieversorgung gäbe, um das Thema voranzutreiben.
Viel Hoffnung wird aktuell in grünen Wasserstoff gesetzt. Er kann durch die bestehenden Gaspipelines geleitet werden und mit bereits rund fünf bis zehn Prozent dem Erdgas beigemischt werden. Langfristig soll er Erdgas komplett ersetzen und auch in der Luftfahrt eingesetzt werden. Die Produktion von Wasserstoff lohnt sich vor allem in den klassischen Ölförderländern wie Katar und Saudi-Arabien. Dort stehen genügend Solarenergie und Wasser (aus Meerwasser-Entsalzungsanlagen) zur Verfügung, sodass sich ein Transport nach Europa rentiert. In der Elektrolyse von Wasserstoff sollten die Kosten in den kommenden sechs Jahren aufgrund der Fixkostendegression erheblich sinken. Der Zeitraum für eine ausreichende Versorgung Europas mit grünem Wasserstoff war ursprünglich mit sieben bis zehn Jahren angesetzt, sollte sich aber auf fünf bis sieben Jahre beschleunigen lassen.
Im europäischen Energiemarkt ist vieles in Bewegung, doch gibt es kurzfristig keine einfache Lösung für die Abhängigkeit von russischem Gas. Letztendlich ist es also wahrscheinlich, dass die EU von einem Energieembargo gegen Russland absieht.