Union Investment pflegt einen besonderen Value-Investment-Ansatz – können Sie kurz erklären, was ihn speziell macht?
Unsere Anlagephilosophie liegt etwa in der Mitte zwischen den im Markt üblichen beiden Extremen, also zwischen ‚Deep Value‘ und qualitativ hochwertigen Substanzwerten. Im Vergleich zu Deep Value-Investoren ist für uns eine günstige Bewertung nicht das alleinige Selektionskriterium. Wir achten bei unseren Investments auch auf eine Mindestqualität und einen Auslöser zur Realisierung des Kurspotenzials über einen mittelfristigen Zeithorizont. Im Vergleich zu den Quality-Value-Investoren, die qualitativ gute Unternehmen zu einem günstigen Preis kaufen, betrachten wir unternehmensspezifische Zyklen in den Gewinnen. Als ‚Contrarian'-Investoren kaufen wir, wenn ein Unternehmen aktuell unter seinem langfristigen Potenzial verdient, und verkaufen, wenn die Gewinne über dem langfristigen Potenzial liegen. Wir verfolgen damit ein sehr aktives Management.
Ob ein Anleger sein Geld in eher hoch bewertete Wachstums- oder in weniger wachstumsstarke Value-Aktien investiert, scheint manchmal fast eine Glaubensfrage zu sein. Aus Ihrer Sicht als Value-Experte – was spricht aktuell für den Value-Stil?
Wir erleben gerade einen Regimewechsel: Lange Jahre prägten geringe Inflation, ultraniedrige Zinsen und mäßiges Wachstum das Marktumfeld. Davon profitierten am Aktienmarkt vor allem wachstumsstarke Unternehmen – so genannte Growth-Titel. Nun hat sich die Welt gedreht. Mit dem Ausklingen der Corona-Pandemie in den meisten Weltregionen kam es zu einer rasanten wirtschaftlichen Erholung – auch am Arbeitsmarkt, wo es Knappheiten gibt. Zugleich setzt verstärkt eine Rückabwicklung der Globalisierung ein.
Das bleibt nicht ohne Folgen: Nachdem viele Unternehmen aufgrund des schwachen Wachstums und der mit Corona verbundenen Unsicherheit lange Jahre kaum in einen Ausbau der Produktion investiert hatten, wurde nun in verschiedenen Wirtschaftsbereichen plötzlich das Angebot von der Erholung der Nachfrage überrollt. Als Folge kehrte die Inflation zurück – und damit sind auch die Zinserwartungen gestiegen. Mit dem Ukraine-Krieg verstärkte sich dann über die Rohstoffseite der Inflationsdruck noch. Zudem sorgt auch die strategische (Rück-)Verlagerung von Produktion und Lieferketten zu mehr Ineffizienzen und Preissteigerungen.
Welche Schlüsse ziehen Sie daraus? Welche Rolle spielen steigende Zinsen hier?
Nach einem Trendbruch – wie wir ihn jetzt erleben – kommt es an den Börsen oft zu einem Favoritenwechsel. Die vergleichsweise bessere Entwicklung von Wachstums- gegenüber Substanz-Aktien dürfte damit ein Ende haben. Ein Umfeld strukturell höherer Zinsen kann etwa Finanzwerte begünstigen, die zu den Value-Titeln gehören. Das sind Unternehmen mit weniger Wachstum, höheren Ausschüttungen und gegebenenfalls günstiger Bewertung.
Für Wachstumstitel sind steigende Zinsen jedoch ein Dämpfer: Dort nimmt die Bewertung viel künftiges Gewinnwachstum vorweg, somit fällt der Zins als Diskontierungsfaktor stark ins Gewicht. In dem veränderten Marktumfeld haben daher Value-Aktien einen Bewertungsvorteil – der trotz der Kurskorrektur bei vielen Wachstumstiteln weiter besteht: Value ist vergleichsweise günstig geblieben.
Seit der Finanzkrise 2008 haben Wachstumsaktien lange eine bessere Wertentwicklung gezeigt als Value-Titel. Warum sollte sich das jetzt längerfristig ändern?
Ein wichtiges Argument ist die fundamentale Verschiebung bei Wachstumstrends, die Value-Aktien in die Karten spielt. So profitieren Value-Aktien auch von der Unterinvestition in vielen Wirtschaftszweigen in den vergangenen Jahren. Dies führte zu einer Knappheit bei Gütern, die früher ausreichend verfügbar waren. Ein Beispiel sind die niedrigen Investitionen im Energiesektor. Hier hinein spielt auch die mit dem nachhaltigen Umbau der Wirtschaft und ESG-Themen (Environmental, Social and Governance) verbundene Unsicherheit. Als Folge haben Unternehmen, die früher wenig margenträchtig waren, nun zunehmend Preissetzungsmacht. Damit ist der Weg für eine steigende Profitabilität – zumindest temporär – gegeben.
Was stimmt Sie so skeptisch gegenüber Wachstumsaktien?
Bei vielen Growth-Aktien ist das überdurchschnittliche Wachstumspotenzial der letzten Jahre ausgeschöpft. Themen wie die Verlagerung hin zu mehr Online-Konsum oder Karten- statt Barbezahlung haben uns jahrelang als strukturelle Wachstumsthemen begleitet. Durch die Corona-Krise kam es zu einer starken Beschleunigung dieser Trends. Das überdurchschnittliche Wachstumspotenzial hält aber nur solange an, bis das Online-Konsumpotenzial ausgeschöpft ist, und genau das ist seit dem Corona-Lockdown der Fall. Ist dieser Punkt erreicht, wachsen diese Unternehmen nur noch mit der Konsumnachfrage statt überdurchschnittlich dazu. Oft intensiviert sich dann der Wettbewerb, da plötzlich nicht mehr genug Marktwachstum für die ambitionierten Wachstumspläne aller Unternehmen übrig ist. Dies ist aktuell sehr gut bei Social-Media-Plattformen zu erkennen.
Unsere Volkswirte erwarten ein schwieriges Umfeld und für 2023 eine Rezession im Euroraum. Trifft dies Value-Aktien nicht mehr als Growth-Titel?
Sicher gibt es bedingt durch die Energiekrise in Europa außer Gewinnern auch Verlierer – auch bei Value-Aktien. Auch in einem rezessiven Umfeld sollten Value-Aktien aber ihre Trümpfe ausspielen können. Das Value-Segment ist derzeit niedriger bewertet und verfügt mit dem hohen Anteil an Pharma- und Telekom- sowie Basiskonsumgüter-Unternehmen über vergleichsweise defensive Geschäftsmodelle. Demgegenüber erwarten wir in den Wachstumssegmenten erstmals stärker werdende zyklische Tendenzen. Im Online-Handel und bei Sozialen Netzwerken ist die Abhängigkeit von Werbe- und Konsumausgaben hoch und stark zyklisch geprägt. Dies wird am Markt vollkommen unterschätzt, weil diese Unternehmen in den vergangenen Rezessionen noch stark vom Verlagerungstrend zu online profitiert hatten.
Wir gehen zudem davon aus, dass das Zeitalter der Negativzinsen vorbei ist. Unsere Ökonomen erwarten in ihrem kurz- und mittelfristigen Basisszenario keine rückläufigen Zinsen. Sollte es trotzdem zu einem Zinsrückgang kommen, würde dies im Value-Segment in erster Linie Finanztitel belasten. Die Kurse sind aufgrund von Rezessionssorgen schon unter Druck geraten, das Rückschlagpotenzial damit begrenzt. Bei Wachstumswerten dagegen würden sich sinkende Zinsen aufgrund von Diskontierungs- und Bewertungseffekten positiv auswirken. Fundamental dürfte aber künftig eine größere Rolle spielen, dass die Wachstumsperspektiven bei Growth- im Vergleich zu Value-Unternehmen weniger vorteilhaft aussehen.
Wie sieht konkret Ihr Ansatz denn aus?
Im Rahmen unseres Value-Ansatzes investieren wir in Unternehmen, deren Gewinne kurzfristig unter dem langfristig geschätzten Potenzial liegen, aber Aussicht auf Verbesserung in einem Zeitraum von normalerweise zwei bis drei Jahren haben. Dabei spielt die Beobachtung von marktwirtschaftlichen Anpassungsmechanismen eine entscheidende Rolle in unserem Investmentprozess.
Konkret ist der Kern Ihrer Anlageentscheidung also die Modellierung eines Gewinnzyklus?
Ja, wir analysieren unternehmensspezifische Gewinnzyklen in reifen Unternehmen mit fest im Markt etablierten Produkten. Langfristig folgen die Gewinne bzw. Verluste eines Unternehmens oder auch einer ganzen Industrie dem strukturellen Nachfragetrend nach bestimmten Produkten, der durch Faktoren wie etwa dem globalen Bevölkerungswachstum, steigendem Wohlstand oder auch Alterung der Bevölkerung getrieben wird. Hinzu kommt eine Margenentwicklung in der Vergangenheit, die durch den Zyklus hindurch realisiert werden konnte. Kurzfristig kann der aktuelle Gewinn/Verlust jedoch deutlich vom langfristigem Potenzial abweichen. Die Gründe können vielfältig sein: zum Beispiel ein temporäres Ungleichgewicht von Angebot und Nachfrage, Investitionszyklen in neue Produktgenerationen, aber auch temporäre starke Kostensteigerungen, Verwerfungen in den Lieferketten oder Schocks in der Nachfrage durch externe Ereignisse wie die Corona-Krise.
Da wir in Unternehmen in einem Umfeld investieren, in dem die aktuelle Gewinnsituation schwierig ist, müssen wir die mit diesem konträren Investmentansatz verbundenen Risiken im Rahmen der Auswahl unserer Investments berücksichtigen. Daher achten wir abgesehen von unserem Hauptkriterium der günstigen Bewertung im Vergleich zum langfristigen Potenzial in der Einzeltitelselektion eben auch auf die Qualität des Unternehmens. Und zudem auf einen auslösenden Faktor, der es ermöglichen kann, dieses Bewertungspotenzial auch in einem absehbaren Zeitraum zu heben.
Zur Person
Stefan Brugger ist seit August 2007 als Aktienfondsmanager bei Union Investment tätig und seit 2009 hauptverantwortlich für den Finanzsektor. Zuvor absolvierte er im gleichen Haus ein einjähriges Traineeprogramm im Portfoliomanagement. Nach seiner Ausbildung zum Bankkaufmann bei der HypoVereinsbank studierte Herr Brugger Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Capital Markets an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und ein Semester an der Ocean University of China in Qingdao. Herr Brugger ist Diplom-Kaufmann und seit 2010 CFA Charterholder.