Die deutsche Wirtschaft und einige ihrer Schlüsselindustrien stehen unter Druck. Grund sind die hohen Energiepreise, aber auch tiefergehende Veränderungen wie der geopolitische Wandel. Was kann Deutschland tun, um wettbewerbsfähig zu bleiben? Und welche Konsequenzen müssen Anleger ziehen, um ihre Chancen zu wahren?
Nicht nur der Bäcker an der Ecke leidet unter den gestiegenen Gas- und Strompreisen. Im Sommer machten auch Berichte von Produktionskürzungen und Schließungen in zahllosen anderen Betrieben und Konzernen Schlagzeilen. Energieintensive Branchen wie die Metall- und Chemieindustrie warnten vor Werksstillegungen und Stellenabbau. So geht etwa der Verband der Chemischen Industrie VCI für das Jahr 2022 von einem Produktionsrückgang um 5,5 Prozent aus.
Energiekrise und Deglobalisierung treffen deutsche Exportindustrie hart
Doch die düstersten Szenarien sind nicht eingetreten. Eine Gasmangellage ist dank gut gefüllter Speicher in diesem Jahr unwahrscheinlich. Staatliche Maßnahmen entlasten Unternehmen und Haushalte zusätzlich. Trotzdem dürfte das deutsche Bruttoinlandsprodukt im nächsten Jahr um rund 1,2 Prozent schrumpfen – ein schwacher Wert im Vergleich zu vielen anderen Ländern. Die Wirtschaftsleistung des gesamten Euroraums geht demgegenüber nur um 0,8 Prozent zurück, die USA kommen wohl mit einem stagnierenden Wachstum davon. Ist das ein Ausrutscher oder ist der Standort Deutschland durch die Energiekrise wieder zum „kranken Mann Europas“ geworden?
Fakt ist, dass die deutsche Wirtschaft sich inmitten eines historischen Umbruchs befindet. Der Handelsbilanzüberschuss ist im August vorübergehend auf rund eine Milliarde Euro geschrumpft, ein für den nun ehemaligen Exportweltmeister bemerkenswert niedriger Wert. Letztmals erzielte Deutschland 1992 einen geringeren monatlichen Überschuss. Zum einen schlagen enorm gestiegene Kosten für die Ersatzbeschaffung weggefallener russischer Energielieferungen in historisch nie dagewesenem Umfang zu Buche. Zum anderen treffen deutlich gestiegene Preise für unentbehrliche Vorleistungsgüter sowie die beschleunigte geopolitisch motivierte Blockbildung eine deutsche Wirtschaft besonders hart, da sie überdurchschnittlich stark von Industrieproduktion und freiem Welthandel abhängig ist.
Das (veraltete) deutsche Wirtschaftsmodell ist den neuen Rahmenbedingungen nicht gewachsen. Deshalb ist mit einer Rückkehr zu alten Handelsbilanzsalden auf absehbare Zeit nicht zu rechnen. Deutschland hinkt hinterher.
„Die Modernisierung des deutschen Wirtschaftsmodells ist unerlässlich, um eine breite Deindustrialisierung zu verhindern.“
Dr. Jörg Zeuner
Die Modernisierung des deutschen Wirtschaftsmodells ist unerlässlich, um eine breite Deindustrialisierung zu verhindern. Kurzfristig sind Entlastungen bei den Energiekosten entscheidend, um Unternehmen und Haushalte vor Übertreibungen zu schützen und ihnen Zeit zu verschaffen, sich auf höhere Energiekosten einzustellen. Außerdem diversifiziert Deutschland zurecht seine Energiequellen. Erstens wird der CO2-Ausstoß immer teurer werden. Zweitens ist der Strom aus erneuerbaren Quellen jetzt schon die günstigste Alternative. In deren Ausbau zu investieren muss daher höchste Priorität haben, um den Wettbewerbsnachteil durch die Energiekosten möglichst schnell wieder abzubauen.
Mittel- bis längerfristig müssen auch viel umfangreichere Mittel als bisher für Investitionen in Schlüsseltechnologien, in den grünen Wandel und die digitale Transformation bereitgestellt werden. Nur so lassen sich alte Industrien modernisieren oder durch neue ersetzen. Die Entkoppelung der globalen Lieferketten ist nur dann eine Chance für Deutschland, wenn wir jetzt die Umsiedlung von Produktionsstandorten aktiv mitgestalten.
Um dauerhaft auf einen höheren Wachstumspfad einzuschwenken, muss Deutschland zudem seine Produktivität erhöhen. Die Modernisierung der Verwaltung gehört hier genauso zu den Maßnahmen wie der Ausbau der Infrastruktur. Um dem strukturellen Arbeitskräftemangel zu begegnen, brauchen wir Zuwanderung, eine bessere Integration vieler arbeitsfähiger Menschen in Deutschland in den Arbeitsmarkt und eine bessere Infrastruktur für die Kinderbetreuung, damit Frauen stärker am Arbeitsmarkt beteiligt werden. Auch eine Reform des Rentensystems mit einer Erhöhung des Renteneintrittsalters kann helfen, das Arbeitsangebot zu erweitern.
Deutschland erstarkt nur gemeinsam mit Europa
Diese Transformation der Wirtschaft kann nur zusammen mit Europa gelingen. Die Europäische Union (EU) ist der relevante Binnenmarkt. Kompromisse mit den Partnern sind nötig, um europäische Lösungen zu finden. Deutsche Alleingänge gegenüber den USA sind zum Scheitern verurteilt. So ist etwa der Inflation Reduction Act, der auch die Grundlage für die Subvention von Elektromobilen bildet, sehr attraktiv für Unternehmen, weil der amerikanische Markt enorm groß ist. Dagegenhalten kann die Europäische Union nur als Ganzes.
Darüber hinaus muss der EU-Binnenmarkt in vielen Bereichen weiterentwickelt werden, wie in der Kapitalmarktunion, Bankenunion und Fiskalunion. Wenn Regierungen und Unternehmen den Strukturwandel angehen, Innovationen fördern und die richtigen Weichen stellen, wird Deutschland – und Europa - eine breite Deindustrialisierung erspart bleiben.
International ausgerichtete Dax-Unternehmen bieten weiterhin Anlagechancen
Der Abgesang auf den Industriestandort Deutschland ist verfrüht, doch die Herausforderungen sind unbestreitbar größer geworden. Welches Fazit lässt sich für Investoren ziehen? Nicht alles auf die Karte Deutschland zu setzen, sondern eine Internationalisierung der Anlage vorzunehmen. Erfreulicherweise ist diese über die Unternehmen aus dem deutschen Leitindex Dax 40 teilweise sehr gut möglich. Denn insgesamt werden rund 60 Prozent der Umsätze der Dax-Konzerne außerhalb Europas erzielt. Die Abhängigkeit von der hiesigen Wirtschaftsentwicklung ist bei der Ergebnisentwicklung deutscher Unternehmen begrenzt.
In einer aktiven Auswahl können Anleger auch auf potenzielle Gewinner des Transformationsprozesses und anpassungsfähige Branchen setzen. Unserer Ansicht nach ist zum Beispiel der Maschinenbausektor ein Bereich, der eine Reorganisation der Lieferketten mit seinen Produkten erst möglich macht. Hinzu kommen Unternehmen, deren Produkte von strategischer Bedeutung für die Gesamtwirtschaft und das gesellschaftliche Leben sind, wie Energie, Lebensmittel, Pharmazie und Transport. Strukturell profitieren auch Firmen aus dem Bereich Erneuerbare Energien. Zurückhaltung ist dagegen bei Herstellern energieintensiver Produkte angezeigt, zu finden etwa in den Bereichen Chemie, Raffinerie, Papier, Glas und Keramik.
Dr. Jörg Zeuner, Chefvolkswirt und Mitglied des Union Investment Committee, Union Investment