Europas Börsen sind seit Herbst 2022 mehr gestiegen als die US-Märkte – warum eigentlich?
Europas Aktienmärkte haben einen fulminanten Jahresstart hingelegt. Dafür gab und gibt es eine Reihe von Gründen: So wird die Konjunktur weniger in Mitleidenschaft gezogen angesichts rückläufiger Energiepreise, aufgelöster Lieferkettenprobleme sowie staatlicher Unterstützungsleistungen für private Haushalte und Unternehmen im Zusammenhang mit Energiekosten. Für Aufholpotenzial sorgten auch niedrige Investorenpositionierungen und Bewertungen. Viele Anleger fürchteten – wegen des Kriegs in der Ukraine, explodierender Energie- und Rohstoffpreise, Spätfolgen der Coronakrise, Inflation und höherer Zinsen – starke Gewinnrückgänge, vor allem in Europa. Diese Sorgen stellen sich als übertrieben heraus. Die bislang vermeldeten Gewinnrückgänge für das Schlussquartal 2022 sind im Schnitt moderat ausgefallen.
Gibt es weitere Faktoren? Europa unterscheidet sich ja von der Branchen-Zusammensetzung klar vom US-Pendant.
Ja, den europäischen Indizes spielt derzeit in die Hände, dass viele Anleger angesichts des niedrigen Wachstums und der hohen Zinsen vor allem günstig bewertete Substanzwerte, sogenannte Value-Aktien suchen – davon finden sich in Europa mehr als in den USA. US-Indizes werden immer noch von höher bewerteten Technologie-Aktien dominiert. Zudem fiel die Wiederöffnung Chinas nach der Null-Covid-Politik schneller und stärker aus als ursprünglich erwartet. Europas Konjunktur profitiert stärker von Chinas wirtschaftlicher Entwicklung als die US-Konjunktur.
Welche Rolle spielt die Lage in China generell?
Die Abkehr von der äußerst strengen Corona-Politik dürfte das Wachstum in China wieder anschieben, zumal Peking als oberstes Ziel ausgegeben hat, die Konjunktur anzukurbeln. Das eröffnet Chancen bei Konsumtiteln, etwa bei Luxusgüter-Herstellern, denn die chinesischen Haushalte gaben während der Lockdowns in den vergangenen drei Jahren weniger Geld aus. Sowohl der Konsum als auch die Reisetätigkeit dürften sich beleben. Allgemein gilt: Von der Wiedereröffnung Chinas profitiert Europa eher als die USA, weil die Unternehmen hierzulande stärker in den Welthandel eingebunden sind.
Wie stehen die Emerging Markets-Aktienmärkte im Verhältnis zu jenen der Industrieländer da?
Dass Anleger derzeit eher Chancen in den Emerging Markets sehen als in den Industrieländern, spiegelt sich in der Entwicklung der Gewinnerwartungen wider. Diese sind für den MSCI China-Index seit November 2022 um mehr als zehn Prozent gestiegen, für den S&P 500-Index dagegen seit Herbst 2022 um knapp fünf Prozent gesunken. Auch für andere Schwellenländer haben sich die Aussichten aufgehellt. Außer an Chinas Wiedereröffnung liegt das auch an der rückläufigen US-Inflation, die ein Ende des US-Zinserhöhungszyklus in greifbare Nähe rücken lässt. Mit dem Ende des Zinsanstiegs in den USA kommt der Zinszyklus auch in den Schwellenländern zum Ende. Ein weiterer Grund ist die die angestrebte Neuordnung der globalen Lieferketten: Davon könnten Länder wie Indien oder Mexiko profitieren. Ein aktuelles Beispiel: BMW beginnt mit der Produktion von Elektroautos in Mexiko.
Wie stabil sind die Gewinnperspektiven aus Ihrer Sicht?
Insgesamt bleibt das weltwirtschaftliche Umfeld angespannt, auch wenn sich das Wachstum in den Industrieländern nicht so stark abschwächt, wie Volkswirte befürchtet haben. Weniger Wachstum führt zu weniger Umsatzwachstum, zugleich bleibt der Kostendruck vielfach bestehen. Das belastet die Margen zahlreicher Unternehmen. In den Ausblicken der Unternehmen im Rahmen der aktuellen Berichtssaison spiegelt sich vielfach Zurückhaltung. Zu viel Pessimismus ist aber nicht angezeigt. In den USA hat die Inflation den Höhepunkt überschritten und sinkt, wenngleich sie strukturell höher bleiben wird als vor der Pandemie. Der Höhepunkt der Kostenbelastung dürfte damit für die meisten Unternehmen bevorstehen. US-Konsumgüterkonzerne melden etwa bereits rückläufige Energie-, Verpackungs- und Transportkosten – als Folge einer Entspannung in den globalen Lieferketten. Und auch in Europa mehren sich die Hinweise, dass der Zenit der Inflation erreicht sein dürfte.
Welchen Einfluss nimmt die Geldpolitik?
Weil der Inflationsdruck abnimmt, hat die US-Notenbank Federal Reserve auf ihrer Sitzung Anfang Februar das Straffungstempo wie erwartet gedrosselt. Der Zinserhöhungszyklus in den USA dürfte in absehbarer Zeit zu Ende gehen, während die Europäische Zentralbank (EZB) aufgrund des noch höheren Preisdrucks ihren Straffungspfad erst im Mai verlassen dürfte. Höhere Zinsen machen Anleihen im Vergleich zu Aktien wieder attraktiver: Unternehmensanleihen mit guter Bonität werfen derzeit rund 3,7 Prozent Rendite ab. Aktien bleiben dennoch wichtig, vor allem mit mittel- und längerfristigen Anlagehorizont. Derzeit bietet etwa der EURO STOXX-Index eine Ertragsrendite von rund 7,8 Prozent – wobei es sich bei Aktien natürlich um eine Anlageklasse mit anderen Eigenschaften als Anleihen handelt. Darüber hinaus können Unternehmen auch in Zukunft in Zeiten mit höherer Inflation ihre Gewinne besser schützen, wenn sie in der Lage sind, steigende Kosten weiter zu geben und von einem höheren Nominalwachstum zu profitieren. In dem neuen Kapitalmarktregime mit tendenziell höheren Inflationsraten haben Anleger mit Realwerten wie Aktien langfristig einen besseren Inflationsschutz im Vergleich zu Anleihen.
Wie sieht das Bild in den USA aus?
Dort liegt die Rendite für Unternehmensanleihen mit guter Bonität bei rund fünf Prozent. Der Renditevorsprung von Aktien zu Anleihen ist in den USA ist dabei zusammengeschmolzen, auch das ein Grund, warum US-Aktien derzeit weniger gefragt sind. Aber auch hier gilt, dass Anleger mit Aktien langfristig einen besseren Inflationsschutz gegenüber Bonds haben.
Und wie sieht es speziell mit dem Technologiesektor aus? Findet dieser nach den Zinsanhebungen wieder einen Boden?
Die schweren Kursverluste bei Tech-Aktien angesichts steigender Zinsen und einem oft schwierigeren Geschäftsverlauf sollten zu einem Ende kommen. Bei einzelnen Unternehmen aus dem US-Technologieindex Nasdaq hellen sich die Geschäftsaussichten wieder auf. Die Lagerkorrektur bei Halbleitern kommt zum Ende. Einzelne Konzerne haben nennenswerte Kosteneinsparungen angekündigt und verbessern ihre strukturelle Profitabilität. Andererseits bleiben einzelne Geschäftsfelder unter Druck. Die Anbieter von Cloud-Diensten sehen sich etwa deutlich schwächerem Wachstum und stärkerem Wettbewerb ausgesetzt. Aber: Der undifferenzierte Pessimismus ist nicht mehr angebracht. Das Ende des Fed-Zinszyklus wird dem Technologie-Segment helfen, sich weiter zu stabilisieren. Aber wie ganz allgemein gilt auch hier: Selbst wenn sich der Zins -und Inflationspfad klarer abzeichnen und die größten Sorgen überstanden zu sein scheinen, bleiben die Unwägbarkeiten und bleibt damit die Volatilität am Markt bestehen. Deshalb ist die aktive Auswahl von Einzeltiteln entscheidend, um rasch eingreifen zu können.
Das neue Kapitalmarktregime – die Great Transformation – lässt mittel- und längerfristig höhere Zinsen, Renditen, aber auch mehr Wachstum, stärkere Konjunkturzyklen und mehr Volatilität erwarten. Was leiten Sie daraus für die Aktienanlage ab?
In einer Anlageentscheidung sollten auch langfristige Einflussfaktoren berücksichtigt werden. Im Fokus steht nicht mehr die enge Verflechtung durch den globalen Handel, sondern der Wettbewerb zwischen den Großmächten USA und China. Die geopolitische Zeitenwende – vollendet durch den Krieg in der Ukraine – führt zu diesem neuen Wachstumsregime. Für Unternehmen hat dies Auswirkungen – etwa auf Margen und Gewinne, aber auch ganze Sektoren sind davon positiv wie negativ betroffen. So steht etwa im Umfeld des Großmachtwettbewerbs die Absicherung von Lieferketten für die nationale Sicherheit zusätzlich zu Effizienz und Ertragsstärke im Mittelpunkt.
Sind damit nur Risiken oder auch neue Anlagechancen verbunden?
Daraus sollte ein Investitionsboom resultieren, der langfristig die Produktivität steigern und das Wachstum antreiben dürfte. Von diesen Investitionsprogrammen kann langfristig die lange vernachlässigte Old Economy profitieren, die vor allem in Europa zu finden ist. Dazu gehören etwa Infrastrukturunternehmen aus dem Mobilitäts-, Strom- und Energiebereich, aber auch Unternehmen aus der Stahlproduktion, dem Maschinenbausektor sowie dem Automatisierungsbereich, oder Firmen aus dem Rohstoffsektor, vor allem aus dem Bereich erneuerbarer Energien. Sie alle zählen zu den Value-Aktien, also so genannten Substanzwerten. Oft finden sich ehemals zyklische Unternehmen aktuell im Mittelpunkt zahlreicher struktureller Trends.
Zu guter Letzt: Was erwarten Sie von den Gewinnmargen – und was bedeutet das für die Aktienauswahl?
Im Umfeld der Great Transformation ergeben sich am Aktienmarkt weiter Chancen. Kurzfristige Verunsicherungen zu Konjunktur und Entwicklung der Gewinne bei den Unternehmen können zum Ausbau von Positionen genutzt werden. Der prüfende fundamentale Blick unter die Motorhaube jedes Einzeltitels und Disziplin sind aber unabdingbar. Die Restrukturierung strategisch wichtiger Lieferketten und die demographische Entwicklung wird den Faktor Arbeit teurer werden lassen; ebenso steigen die Herstellungskosten sowie die Investitionsgüterpreise aufgrund der Ausgaben für physische Investitionen etwa in Fabriken und Maschinen. Mit dem strukturell höheren Zinsniveau steigen auch die Kapitalkosten. Die Folge: Die Gewinnmargen der US-Unternehmen dürften längerfristig niedriger ausfallen als zuletzt. Das bedeutet aber nicht, dass das die Unternehmen ihre Gewinne nicht mehr ausbauen können, denn das von uns erwartete strukturell höhere ökonomische Wachstum dürfte die Umsatz- und die Gewinnentwicklung stützen. Das gilt vor allem für die Unternehmen, die mit einer starken Stellung bei ihren Kunden eine gute Preissetzungskraft haben.
Von Benjardin Gärtner, Leiter Portfoliomanagement Aktien und Mitglied des Union Investment Committee